„Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse“, Kapitel 10
TSV Weiherfelden – 1. FC Kirchthein (2. Spieltag)
Wir waren alle nur Amateurfußballer, aber Mannschaftssport verpflichtet. Und so schlenderte ich kleinlaut in das Büro meiner Zivildienstchefin Silke und fragte sie, ob ich an diesem Freitagnachmittag ausnahmsweise zwei Stunden eher Schluss machen konnte. Nach meinem Missgeschick mit dem Franz war es mir besonders wichtig, beim traditionellen Arbeitsdienst vor dem ersten Heimspiel der Saison anwesend zu sein. Ziel war es, die Sportanlage des TSV Weiherfelden in Schuss zu bringen, um zum Saisonauftakt ein positives Außenbild abzugeben. Ich war nicht der einzige Spieler der 1. Mannschaft, der extra für diesen mühsamen Anlass seine eigentliche Arbeit früher niederlegte. Es war seltsam. Die Profispieler, denen ihr Verein ohnehin Millionen fürs Fußballspielen bezahlte, bekamen auch noch alles hinterhergetragen. Wir Amateurspieler hingegen mussten regelmäßig im Sportheim ausschenken, Arbeitsdienste verrichten, und obendrein noch mindestens einmal im Monat einen Kasten Bier bezahlen, da es schier unmöglich war, diesem verflixten Strafenkatalog zu entrinnen.
Als frischgebackener Abiturient bekleckerte ich mich beim Arbeitsdienst nicht gerade mit Ruhm. Aufgrund meiner geringen handwerklichen Begabung wurde ich zum Fegen des Tribünenbereichs eingeteilt. Meine zarten Schülerfinger waren solch anspruchsvolle körperliche Tätigkeiten nicht gewohnt. Als ich mich bereits nach zehn Minuten Kehrdienst über die ersten Blasen an meinen Handflächen beklagte, zog ich mir die hämischen Blicke unseres Kapitäns zu. Harald, seines Zeichens Dachdecker mit rauen, kräftigen Arbeiterhänden, konnte natürlich nicht nachvollziehen, wie man vom zehn-minütigen Umklammern eines Besenstiels Blasen bekam. Der Ruf als „echter Kerl“, den ich mir auf spektakuläre Weise beim Wettpinkeln in der Dusche aufgebaut hatte, begann ob meiner „zarten Mädchenhände“ (wie Harald sie spöttisch nannte) wieder zu bröckeln.
Da Blasen an den Handinnenflächen nicht zu den schwersten Fußballerverletzungen zählen, fühlte ich mich dennoch einsatzbereit für das erste Heimspiel der neuen Saison. Wir waren alle hoch motiviert, als wir mit grimmig fokussierten Blicken in der Kabine saßen und auf die Ansprache unseres Trainers warteten. Heute galt es, an die gute Leistung gegen Blau-Weiß Forchheim anzuknüpfen. Nach dem blamablen Auftritt in Hohenstein musste unbedingt ein Sieg her. Andreas Dietner sah das nicht anders.
„Kirchthein ist erneut kein spielstarker Gegner, aber ihr wisst, dass sie in der Abwehr sehr rustikal zu Werke gehen. Ihre langen Bälle in die Spitze sind brandgefährlich. Gegen so eine Mannschaft können wir nur bestehen, wenn jeder Einzelne von euch von der ersten bis zur letzten Minute Vollgas gibt. Wir müssen kratzen und beißen, kommen und gehen, die Zweikämpfe suchen und für uns entscheiden. Koste es, was es wolle! Nicht übermotiviert, aber motiviert! Ihr müsst euch heute auf dem Platz für den TSV zerreißen! Dann klappt es auch mit dem ersten Heimsieg!“
Unser Trainer hatte wieder eine inspirierende, feurige Rede geschwungen. Trotzdem fühlte es sich an wie ein Déjà-vu. Irgendwie hatte ich den Eindruck, das alles schon einmal gehört zu haben. Aber sei es drum, Andreas hatte in jedem Falle Recht. Es war an der Zeit, drei Punkte einzufahren. Koste es, was es wolle!
Das Duell gegen den 1. FC Kirchthein hätte ungleicher nicht sein können. Erneut waren wir unserem Gegner in allen Belangen überlegen. Ballsicher dominierten wir mit exzellenter Spielübersicht die Partie. Die Gäste hingegen spielten klassischen Kick-and-Rush. Von kontrolliertem Passspiel und überlegten Spielzügen war nichts zu sehen. Kirchthein hatte ein gutes Abwehrverhalten. Die harten Manndecker ließen unseren Angreifern nicht den Bruchteil einer Sekunde Zeit, den Ball anzunehmen. Kaum in Ballbesitz, droschen die Kirchtheiner Defensivspieler den Ball mit aller Gewalt in unsere Hälfte. Ohne jedwedes fußballerisches Können, aber dafür mit umso mehr Willen und Körpereinsatz, setzten sich dann die beiden bulligen Stürmer des Gegners in Bewegung und versuchten, die langen Bälle zu erlaufen.
Dann endlich, nach 35 zähen Minuten, gelang uns der langersehnte Führungstreffer zum 1-0. Mein Kumpel Stefan Schmidt hatte einen Stoppfehler der technisch nicht gerade beschlagenen Kirchtheiner Defensivabteilung ausgenutzt und den Ball aus 12 Metern ins rechte Toreck eingeschoben. Wir feierten den wichtigen Treffer. Insbesondere gegen eine so abwartend agierende Mannschaft wie den 1. FC Kirchthein war ein 1-0 im Rücken Gold wert.
Aber wir hatten uns wieder einmal zu früh gefreut. Wir zirkulierten ballsicher das Leder in den eigenen Reihen. Die Pausenführung war so gut wie sicher. Da passierte es. Eine Minute vor dem Halbzeitpfiff brachte einer der beiden kraftvollen Stürmer des 1. FC Kirchthein seinen Fuß in einen leichtfertigen Pass von Martin Kruse an Dominik Prien. Wie eine unaufhaltsame Dampfwalze setzte sich der breitschultrige Büffel in Bewegung. Mit einem brachialen Gewaltschuss bezwang der Stürmer unseren bis dato kaum ernsthaft geprüften Torwart Andreas Stieler. Es stand 1-1. Wir hatten es wieder geschafft. Wir hatten ein Spiel aus der Hand gegeben, das bis dahin völlig nach unseren Vorstellungen verlaufen war.
Auf dem Weg zu den Umkleidekabinen hörten wir die wütenden Schimpftiraden der kritischen Zuschauer.
„Schaut euch die Kirchtheiner an. So wird Fußball gespielt!“
„An denen sollte sich unsere Mannschaft mal ein Beispiel nehmen!“
„Dieses Hintenrumgespiele kann ja kein Mensch ertragen!“
„Die sollen ihre Bälle vorhauen, dann passiert sowas nicht!“
„Das haben sie jetzt von ihrer Schönspielerei!“
Ich traute meinen Ohren nicht. Wir spielten einen gepflegten, technisch anspruchsvollen, ballsicheren Fußball. Wie konnten die Zuschauer nur den Rumpelfußball des 1. FC Kirchthein als den besseren Stil bezeichnen? Hatten wir nicht 45 Minuten lang Katz und Maus mit ihnen gespielt? Dieser altertümliche Kick-and-Rush-Stil war selbst in den hinterwäldlerischsten Kreisklassen seit Jahrzehnten überholt.
Meine Mitspieler bemerkten meinen fassungslosen Blick.
„Das ist ganz normal, Marco. Denk dir nichts dabei und lass sie reden.“
„Ja, früher hat man in den Kreisklassen nur so gespielt wie Kirchthein.“
„Ganz nach dem Motto: Du haust den Ball vor, und ich mach ihn rein!“
Ich wollte es nicht glauben: „Und das wollen die Zuschauer von uns sehen?“
„So hat man früher gespielt, und so wollen sie es auch heute noch sehen. Früher war sowieso alles besser“, erklärte Klaus Meier.
„Aber mit Fußball hat das ja nicht viel zu tun, oder?“
„Du musst dir mal am Samstagnachmittag ein Bundesligaspiel im Sportheim anschauen. Dann werden dir die Alten schon erzählen, was Fußball wirklich ist und wie man das Spiel richtig spielt!“
In der Pause versuchte Andreas Dietner, das niedergeschlagene Team zu motivieren. „Es steht 1-1. Ihr habt den Gegner eigentlich im Sack. Die können uns doch nicht das Wasser reichen. Geht raus und konzentriert euch. Wir müssen nur unsere Chancen reinmachen, dann können wir dieses Spiel gar nicht verlieren!“
Die zweite Halbzeit begann erneut mit einer eines Fußballspiels unwürdigen Aktion des 1. FC Kirchthein. Ein Verteidiger hatte den Ball vom bislang blassen Michael Meister erobert. Er hatte alle Zeit der Welt. Weit und breit war kein Spieler des TSV Weiherfelden zu sehen. Jeder normale Fußballer hätte in Ruhe seinen Kopf gehoben, ein geeignetes Ziel für einen sauberen Pass ausgewählt, und ein simples Zuspiel zu einem freistehenden Mitspieler ausgeführt. Der Abwehrspieler unserer Gäste hingegen drosch den Ball mit einer rustikalen Inbrunst ins Seitenaus, als hinge der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft davon ab. Der Ball segelte über die Tribüne und in das kleine Wäldchen hinter der Getränkebude.
Als wäre das nicht genug gewesen, meldeten sich nun auch noch unsere dilettantischen Zuschauer zu Wort.
„Da seht ihr mal, der zeigt euch, wie es geht!“
„So funktioniert eine saubere Verteidigung!“
„Endlich mal einer, der klare Dinger hinten raus spielt!“
„Es würde noch 1-0 stehen, wenn ihr das auch mal macht!“
Unglaublich! Ich konnte nur hoffen, dass niemand dieser selbsternannten Fußballprofessoren jemals selbst einen Ball am Fuß gehabt hatte. Es wäre eine Schande für den armen Fußballsport gewesen!
Und dann kam Andreas Stielers Stunde. Unser Torwart war normalerweise ein sicherer Rückhalt mit ausgezeichneten Reflexen, der uns in der Vorbereitung mit seinen glänzenden Paraden das eine oder andere Mal vor einem sichergeglaubten Gegentor bewahrt hatte. Aber er hatte auch den Ruf, die besonders schwierigen Bälle zu halten, aber dann bei den einfachsten Schüssen die hanebüchensten Fehler zu machen.
Direkt nach Beginn der 2. Halbzeit hatte er mit einzigartigen Reflexen noch Bälle von der Torlinie gefischt, die womöglich nicht einmal ein Bundesligatorhüter gehalten hätte. Dankend klopften wir unserem stolzen Andreas auf die Schulter. Ein Rückstand zum jetzigen Zeitpunkt wäre fatal gewesen.
Dann aber kam die 54. Spielminute. Wieder einmal knüppelte die Kirchtheiner Hintermannschaft den Ball ziellos nach vorn. Der Ball sprang einem der beiden unbeholfenen Angreifer ans Schienbein und kullerte ungefährlich auf das Tor von Andreas Stieler zu. Ein Selbstläufer. Plötzlich geschah das Unfassbare. Andi stolperte über seine eigenen Füße. Ungeschickt taumelte er zu Boden. Andreas versuchte noch, mit seiner linken Hand an den Ball zu kommen. Doch der Ball rollte mit einer Geschwindigkeit von geschätzten fünf Stundenkilometern über die Torlinie. Der 1. FC Kirchthein hatte die 2-1 Führung erzielt.
Verärgert stemmten wir uns gegen die drohende Niederlage. Wir konnten doch nicht ernsthaft zu Hause einer solchen Rumpelmannschaft unterliegen! Eine Angriffswelle nach der anderen brach über die felsenfeste Abwehr der Gäste hinein. Aber sobald wir uns festgerannt hatten, klopfte die Kirchtheiner Defensive den Ball in gewohnter Manier zurück in unsere Hälfte. Wir waren frustriert. Die Uhr tickte. Minute für Minute sanken unsere Chancen auf den Sieg.
Torwart Andreas machte seinem eigenen Frust inzwischen lautstark Luft. Langsam begann ich zu verstehen, wieso er in Anlehnung an seinen Nachnamen Stieler den Spitznamen „Rumpelstilzchen“ trug.
Schimpfend wie ein Rohrspatz stapfte er in seinem Tor auf und ab und fluchte was das Zeug hielt. „Sowas Schlechtes wie uns hab ich ja noch nie gesehen. 2-1. 2-1! 2-1! Gegen so einen Gegner! Gegen so eine Hustentruppe! Dass wir so schlecht sind, hätte ich nicht gedacht. Eine Schande für die Kreisklasse sind wir. So eine niedrige Klasse muss erst noch erfunden werden, in der wir eigentlich spielen müssten! Kein Wunder, bei so einem Torwart! Das gibt es nicht, das gibt es nicht. 2-1. 2-1! 2-1! Gegen so einen Gegner!“
Die Kirchtheiner Mannschaft suchte bereits fragend unsere Blicke. Sie wollten sich vergewissern, dass dieser Torhüter keiner geschlossenen Anstalt entlaufen war. Doch auch sie kannten die alte Fußballerweisheit, dass der Torwart und der Linksaußen in jeder Mannschaft einen an der Klatsche haben. Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Andreas Stieler heiß!
Unseren durchgeknallten Torwart ignorierend, rannten wir weiter gegen die hart verteidigenden Kirchtheiner an. Zwei Minuten vor dem Ende hatten wir die Hoffnung beinahe aufgegeben. Da kam der große Moment des korpulenten Bewegungswunders Bernd Hagen. Der für seine ungelenken Dehnübungen und langsamen Sprints beim Trainer in Ungnade gefallene Mittelfeldspieler war von Andreas Dietner aus purer Verzweiflung eingewechselt worden.
Bernd Hagen war ein überragender Techniker und immer für einen Geniestreich gut, wo die Athletik und der Einsatzwille seiner Kameraden versagten. Wir spielten uns mut- und ratlos am Strafraum des Gegners den Ball zu. Als ich den Ball schließlich zu Bernd weiterreichte, drehte dieser plötzlich unmittelbar bei der Ballannahme eine Pirouette und umkurvte geschickt seinen zu hastig attackierenden Gegenspieler. Der Kirchtheiner Libero versuchte ihn abzupassen. Aber Bernd täuschte einen Querpass auf den freistehenden Michi Meister an, ließ den Libero der Gäste ungestüm ins Leere grätschen, und stand mit einem Mal frei vor dem gegnerischen Tor. Mit feinster Technik lupfte er den Ball über den aus seinem Tor stürmenden Torwart hinweg in die Maschen.
Bernds Geniestreich war die letzte nennenswerte Aktion an diesem Sonntag. Auch wenn wir uns vor dem Spiel viel mehr vorgenommen hatten, bescherte uns das 2-2 gegen den 1. FC Kirchthein zumindest den ersten Punkt der Saison.
Als ich nach dem Spiel frisch geduscht das Sportheim betrat, hörte ich schon am Eingang das aberwitzige Geschwätz der Zuschauer.
„Eigentlich sind sie ja gar nicht so schlecht. Wenn sie nur mal konsequent ihre Bälle hinten raus schlagen würden, dann hätten sie bestimmt schon mehr als nur einen Punkt auf dem Konto.“
„Schade, dass es bei uns früher noch keine Videokameras gegeben hat. Sonst hätten wir ihnen mal ein Lehrvideo von uns zeigen können.“
„Aber die Kirchtheiner haben mir gut gefallen heute. Die haben echt nichts anbrennen lassen und ihre Bälle gut nach vorn gespielt.“
Kopfschüttelnd setzte ich mich an einen Tisch mit Niklas, Harald, Andreas und Bernd und bestellte ein Radler. Während der Don Zahnstocher kauend mein Getränk brachte, erinnerte ich mich an die Empfehlung meiner Kollegen während der Halbzeitpause. Neugierig machte ich mir eine geistige Notiz, am kommenden Samstag ein Bundesligaspiel im Sportheim anzusehen. Und diese Entscheidung sollte ich nicht bereuen.
Titel: Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse
Amateur-Fußballer Marco Tanner muss sich als “Zugereister“ in die deftige fränkische Lebensweise einfinden, um bei seinem skurrilen neuen Fußballverein Fuß zu fassen.
Alle bisher veröffentlichten Kapitel
- Autor: Jonas Philipps
- Genre: Humorvolle Unterhaltung / Sport
- Ziel-Altersgruppe: 16 – 50
- Anzahl Kapitel: 45 Kapitel
- Seiten: 368 Seiten
- ISBN: 9783744819442
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