Sonntagsgedanken
Zum 25. Todestag von Helmut Thielicke
Helmut Thielicke erzählt: „Als ich zehn Jahre alt war (1918), hatten wir in unserer Klasse einen Jungen, den wir gar nicht leiden mochten. Er war ein Streber, ein Angeber und ein Versager bei unseren heftigen Prügeleien. Eines Tages hatten wir beschlossen, ihn zu seiner Abhärtung eine Tracht Klassenhiebe zu verpassen. Als wir an dem betreffenden Morgen vor dem Schultor auf Einlass warteten, sahen wir, wie der Vater mit dem Jungen kam. Der Vater streichelte die Wangen des Jungen, strich ihm liebevoll über die Haare, sagte ihm gute Worte und drehte sich dann winkend noch mehrmals nach dem Jungen um.
Bei uns trat eine eigentümliche Wirkung ein. Die geplanten Klassenhiebe unterblieben. Sicher nicht aus Angst vor dem Vater. Aber uns überkam eine merkwürdige Scheu, die uns bremste. Der Junge wurde von diesem Vater so geliebt. Da konnten wir uns nicht an ihm vergreifen. Damals habe ich zum ersten Mal die Macht der Liebe erkannt und geahnt, was Gott mit dem Gebot der Liebe gemeint hat. Der letzte Grund dafür, dass wir unsere Mitmenschen lieben sollen, dass wir uns nicht an ihnen vergreifen, ist, dass Gott sie liebt. Man würde sich an Gott selbst vergreifen, wollte man seinen Menschen schaden. Wir sind von Gott geliebt, darum sind wir unantastbar. Von Gott geliebte stehen auch unter seinem Schutz.“
Ich lese diese Zeilen Thielickes mit Wehmut und Verwunderung. Würden sich heutige Jugendliche nicht erst recht auf den Buben stürzen? Und klingt Thielickes Schlusssatz nicht nach Illusion? Leid, Unrecht und Tod bleiben auch gläubigen Christen nicht erspart und mancher fragt sie dann boshaft-spöttisch: Wo ist nun Dein Gott?“ Ebenso verhöhnte man auch den gekreuzigten Jesus.
Gleichwohl überzeugt mich Thielickes Grundaussage, dass Gottes Liebe zu jedem Menschen unsere „Nächstenliebe“ motiviert, ihr Kraft und Ausdauer schenkt. Die Menschenfreundlichkeit der Atheisten dagegen „hängt in der Luft“, fehlen ihr doch Antriebskraft und Ziel. Die Erfahrung zeigt doch , dass der Lump mehr Glück hat und sich eher durchsetzt als der Anständige. Was „Nächstenliebe“ konkret heißt, muss freilich jeder selbst entscheiden. Thielicke deutet auch zu Recht das göttliche Endgericht an. Gott wird alle zur Verantwortung ziehen, die sich an seinem Ebenbild namens Mensch vergreifen – das stärkste Argument für den Glauben an Gott.
Pfarrer Dr. Christian Fuchs, www.neustadt-aisch-evangelisch.de
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