„Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse“, Kapitel 3

DJK Dreientor – TSV Weiherfelden

(Vorbereitungsspiel)

Am Donnerstag nach dem Training lernte ich eine der skurrilsten Gestalten meines Lebens kennen. Und bei einem Hamburger Jung, der schon das eine oder andere Mal in St. Pauli feiern gewesen war, soll das etwas heißen!

Die Rede war vom „Don“, dem Wirtschaftsführer des Weiherfeldener Sportheims. Dons wirklichen Namen kannte ich nicht. Nach einigen Jahren in Weiherfelden begann ich sogar daran zu zweifeln, dass „Don“ nicht sein vollständiger amtlicher Name war.

Der Don war angeblich Mitte Fünfzig. Er sah aus wie ein braungebrannter Zuhälter mit Vokuhila-Frisur. Dunkle Brusthaare sprießten unter zwei prolligen Goldkettchen aus seinem aufgeknöpften Hawaiihemd. Auf einem Zahn­stocher kauend stand der Don hinter der Theke und schenkte dem aus alten Fußballveteranen bestehenden Stammtisch ein Glas Bier nach dem anderen ein. Noch vor einigen Jahren hatte er für ein großes deutsches Ver­sicherungsunternehmen gearbeitet. Sehr erfolgreich sogar, wie man hörte. Ein befreundeter Kollege aus der Personalabteilung, zuständig für die Verträge der Versich­erungsvertreter, hatte ihm eines Tages bei einem Glas Bier erzählt, dass man gerade an einer neuen Richtlinie arbeitete. Es ging darum, altgediente Vertreter, die ihren Zenit überschritten hatten und altersbedingt immer schlechtere Arbeit ablieferten, in bezahlten Vorruhestand zu schicken. Der Don war ein gewiefter Lebemann. Rasch hatte er dieses Insider-Wissen ausgenutzt. Ein riskanter Vertragsabschluss hier, ein ärgerlicher Fehler da – und schon war der Don Frührentner. Bei voller Bezahlung, versteht sich!

Natürlich musste man diese Geschichte mit Vorsicht genießen. Der Don war in Weiherfelden eine Legende, und um Legenden rankten sich so manche ausge­schmückte Gerüchte. Aber wenn man dem Don so zusah, wie er mit verschmitztem Lächeln und stets einem lockeren Spruch auf den Lippen sein Bier ausschenkte, dann war dem Weiherfeldener Gigolo alles zuzutrauen.

An diesem Abend blieb ich nach dem Training länger sitzen als sonst. Ich unterhielt mich bei einem schmack­haften Radler mit meinem Nudisten-Leidenskollegen Stefan. Als die anderen Mannschaftskollegen in Auf­bruchstimmung waren, kassierte der Don die Gäste ab, tippte einem auf seinem Stuhl eingeschlafenen Rentner auf die Schulter, und gesellte sich schließlich zu Stefan und mir. Der wankende Rentner, den sie alle „den Regisseur“ nannten, folgte ihm. Seufzend ließen sich die beiden Urgesteine an unserem Tisch nieder.

„Ihr seid also die zwei Helden, die nackert durch das Obsthofener Sportheim rennen?“, fragte der Don grinsend.

Schweigend starrten Stefan und ich einander an.

„Is scho gut, Jungs. Wir haben hier schon ganz andere Sachen erlebt!“

Ich war mir nicht sicher, ob ich das im Detail wissen wollte.

„Du bist der Kleine aus Hamburg, oder?“, wandte sich der Don an mich.

„Ja, genau.“

„Hamburg… tolle Stadt. War ich auch schon mal.“

Bei einem Stilberater am Kiez?, schoss es mir rotzfrech in den Kopf. Das würde so einiges erklären. Ich biss mir auf die Lippen und signalisierte freundlich nickend meine Zustimmung.

„Der Coach hält ja große Stücke auf dich, seit du dem Meisters Michi beim ersten Training den Schneid abgekauft hast!“, lobte der Don anerkennend und musterte mich von oben bis unten.

„Habt ihr früher auch für den TSV gespielt?“, erkundigte ich mich.

„Lange her“, erwiderte der Don nachdenklich. „Sehr lange her.“

„Und der Regisseur? War er euer Spielmacher?“, fragte Stefan.

„Spielmacher? Ne, wieso? Ach, wegen seinem Spitz­namen? Der Regisseur?“

„Ja, genau.“

„Nein, der war kein Spielmacher. Beinharter Ver­teidiger war der!“, erklärte der Don.

Der Regisseur sagte nichts dazu. Volltrunken blinzelte er in sein halbvolles Bierglas und kämpfte mit seinen tonnenschweren Augenlidern.

„Wieso heißt er dann Regisseur?“, wollte ich wissen.

„Des is a lange Gschicht“, lachte der Don und schob seinen Zahnstocher vom rechten in den linken Mund­winkel. „Vor vielen Jahren wurde hier in der Gegend mal a Film gedreht.“

„Und er war der Regisseur?“, platze es ungläubig aus mir heraus.

Der skeptisch-mitleidige Blick, mit dem der Don mich daraufhin bedachte, ließ wenig Zweifel über seine Gedanken zu. Es war wohl eine Mischung aus „Diese beiden Einfaltspinsel haben uns gerade noch gefehlt“ und „Dass sich zwei solche Idioten in ihr Sportheim verlaufen haben, muss den Obsthofenern vorgekommen sein wie Ostern und Weihnachten am selben Tag“.

„Sein Vater hatte eine große Wiese, auf der eine Festszene im Bierzelt gedreht wurde. Als Dank hatte der Regisseur des Films seinem Vater versprochen, dass der junge Sohnemann bei der Szene mitspielen darf“, erklärte der Don. „Aber als dann der große Drehtag gekommen war, hatte sich unser Freund beim Warten auf die Hauptdarsteller bereits so viele Krüge Bier genehmigt, dass der Regisseur ihn nicht mehr gebrauchen konnte. Aus Angst seinen Vater zu verärgern, machte er ihn kurzerhand zum Assistenzregisseur. Unser stolzer Kollege hier war damit hochzufrieden. Immerhin durfte er dem Regisseur des Films seine Jacke und seinen Bleistift hinterhertragen.“

„Gor ned wohr!“, protestierte der Regisseur lallend und legte schläfrig den Kopf auf seinem Bierglas ab.

Der Don wollte etwas erwidern, als plötzlich sein Handy klingelte. Stefan und ich tauschten peinlich berührte Blicke aus, als „You can leave your hat on“ von Joe Cocker erklang.

„Was ist denn?“, meldete sich der Don barsch. „Nein, ich kann des Sportheim noch ned zusperren… Weil die Gäste noch ned heimwollen.“

Während Stefan und ich wild gestikulierten, dass er ruhig schließen konnte, zwinkerte uns der Don abwinkend zu und sprach grinsend in sein Mobiltelefon: „Vielleicht kommt ja noch eine hübsche junge Frau im Sportheim vorbei, gegen die ich dich endlich eintauschen kann.“

Kopfschüttelnd legte der Don auf: „Weiber!“

„Ich glaube, wir gehen dann mal“, stammelte Stefan unsicher und kramte in seinem Geldbeutel, um seine zwei Radler zu bezahlen.

„Ach kommt schon“, sagte der Don. „Der Regisseur trinkt bestimmt auch noch eins mit.“

Zumindest widersprach der mit dem Kopf auf sein Bierglas gepresst schlafende Regisseur nicht. Doch die roten Ränder auf seiner Stirn ließen vermuten, dass diese Position alles andere als bequem war.

„Ich glaube, dem Regisseur tut sein Bett langsam aber sicher auch ganz gut“, antwortete ich und legte meine vier Euro neben Stefans Münzen.

„Alter Schwede, wo sind wir hier nur gelandet“, lachte Stefan ungläubig, als wir unsere Sporttaschen in die vor dem Sportheim geparkten Autos einluden.

„Das wird auf jeden Fall eine unterhaltsame Saison“, stimmte ich zu und fuhr kopfschüttelnd nach Hause.

Zwei Tage später stand ich wieder vor der Eingangstür des sagenumwobenen Weiherfeldener Sportheims. An diesem Vorbereitungswochenende hatte Spielleiter Willi gleich zwei Spiele angesetzt. Beim Heimspiel gegen Tiefensteig erzielten wir einen beeindruckenden Ach­tungserfolg. Immerhin rangen wir dem bärenstarken Titel­favoriten der Kreisliga ein 1-1 Unentschieden ab. Am Sonntag waren wir schließlich bei der DJK Dreientor zu Gast.

Beim Treffpunkt vor dem Dreientorer Sportheim drückte mir Spielleiter Willi einen Zettel in die Hand: „Da, das solltest du dir mal anschauen. Könnte wichtig sein, gerade für dich als Zivi.“

Ich hatte keine Ahnung, was meine bald beginnende Tätigkeit als Zivildienstleistender mit diesem Zettel zu tun hatte. Deshalb riskierte ich auf dem Weg in die Umkleidekabine einen ersten neugierigen Blick.

„Strafenkatalog“, murmelte ich ernüchtert, und begann den zerknitterten Zettel genauer zu studieren. Einen Strafenkatalog kannte ich aus meiner Jugendzeit. Dort waren kleinere Geldstrafen für undiszipliniertes Verhalten auf dem Spielfeld festgeschrieben gewesen. Da ich mich während den Spielen in der Regel diszipliniert verhielt, hatte ich nur selten Geld in die Mannschaftskasse einzahlen müssen.

Der Strafenkatalog des TSV Weiherfelden aber erwies sich als sehr ungewöhnlich.

Strafenkatalog TSV Weiherfelden

Gelbe Karte wegen Meckern 5 €

Platzverweis wegen Meckern 30 €

Platzverweis wegen Tätlichkeit 50 €

Unentschuldigtes Fehlen beim Spiel 50 €

Zu spät beim Treffpunkt 1 € pro Minute

Respektlosigkeit gegen Zuschauer 10 €

Respektlosigkeit gegen Trainer / Betreuer 1 Kasten Bier

Falscher Einwurf 1 Kasten Bier

Extreme Trunkenheit beim Spiel 1 Kasten Bier

Handybenutzung in der Kabine 5 €

Furzen in der Kabine 5 €

Rauchen im Trikot 5 €

Rauchen in der Kabine 1 Kasten Bier

Biertrinken in der Halbzeit 1 Kasten Bier

Während mir der erste Teil des Blattes durchaus sinnvoll vorkam, wagte ich doch, den zweiten Teil zu hinterfragen. Ich meine, wer rauchte denn in der Umkleidekabine oder holte sich in der Halbzeitpause ein Bier? Aber am meisten staunte ich darüber, dass ein Kasten Bier beim TSV Weiherfelden offenbar als eine Art Währung anerkannt war. Schön, wenn ein sportlicher Lebenswandel von den Offiziellen forciert wurde.

„Was hast du denn da dabei?“, fragte Torwart Andreas Stieler, während wir mit unseren Sporttaschen bewaffnet in die Umkleidekabine schlenderten.

„Den Strafenkatalog“, erklärte ich kopfschüttelnd. „Wer hat sich denn das alles einfallen lassen?“

„Das basiert alles auf Erfahrungswerten der letzten paar Jahre“, rief Kapitän Harald Gepard hinter mir.

„Wollt ihr mir wirklich weismachen, dass das alles schon vorgekommen ist?“, fragte ich verwundert.

„Die Liste wird stetig erweitert, sobald sich wieder mal etwas Spektakuläres ereignet!“

Na wunderbar, dachte ich skeptisch. In jedem Falle würde es bei diesem Verein nie langweilig werden.

„Besonders aufpassen solltest du auf die unge­schriebenen Gesetzte, die nicht im Strafenkatalog stehen. Die können so richtig ins Geld gehen!“, fügte Routinier Klaus Meier mit einem verschmitzten Grinsen hinzu.

Ich wollte gar nicht wissen, was sich hinter diesen ungeschriebenen Gesetzen verbarg. Exhibitionismus auf der Auswechselbank? Geschlechtsverkehr beim Anstoß?

„Du solltest darauf achten, niemals zwei Tore in Folge zu schießen“, begann Klaus die essentielle Lehrstunde.

„Wieso denn das?“, lachte ich, während ich mir den Kopf zerbrach, ob sich meine Kollegen gerade einen Scherz mit ihrem naiven neuen Mitspieler erlaubten.

„Ganz einfach: Wenn du zwei Tore in Folge erzielst, stehen die Chancen bei 90 Prozent, dass du einen Kasten Bier bezahlen musst. Ein lupenreiner Hattrick kostet nämlich einen Kasten Bier.“

Ich war verwirrt. „Aber wenn ich zwei Tore schieße, bin ich doch noch fein raus.“

„Bei uns nicht! Sobald du nach zwei Treffern eine klare Torchance versiebst, musst du den Kasten Bier trotzdem bezahlen: wegen Hattrick-Verweigerung. Als Verweigerung zählt es übrigens auch, wenn du nach zwei Toren in Folge ausgewechselt wirst.“

„Und was ist, wenn jemand anderer nach meinem zweiten Tor ein Tor schießt?“

„Dann muss er den Kasten bezahlen. Schließlich hat er einen möglichen Hattrick zerstört.“

Das alles war mir zu kompliziert. Innerlich beschloss ich, am besten gar kein Tor für den TSV Weiherfelden zu erzielen. Defensiv nichts anbrennen lassen und vorne Zurückhaltung wahren. Das sollte meinen leeren Zivi­geldbeutel genug schonen, um über die Runden zu kommen. In der 1. Mannschaft meines Hamburger Heimatvereins bekamen die Spieler Auflauf- und Tor­prämien. Hier musste man also Bierkästen spendieren, wenn man zu viele Tore schoss. Wie motivierend.

„Muss ich sonst noch auf irgendetwas achten?“

„Ja. Beim 10. Tor in einem Spiel und beim 100. Saisontor gelten die gleichen Regeln.“

„Das heißt, wenn wir mal 99 Saisontore haben sollten, muss jeder, der eine Chance nicht rein macht, einen Kasten Bier zahlen, bis jemand das 100. Tor schießt, für den er natürlich auch einen Kasten Bier spendieren muss?“, fasste ich entgeistert zusammen.

„Cleveres Kerlchen!“, lobte Klaus augenzwinkernd und öffnete die Tür zur Gästekabine.

Die DJK Dreientor hatte nicht den besten Ruf. Schon früh in meiner Fußballerkarriere hatten mir alle Trainer eingebläut, jedem Gegner mit Respekt entgegenzutreten. Fußballspiele wurden größtenteils im Kopf entschieden. Nur so konnte man seine beste Leistung abrufen und enge Spiele gewinnen. Viel Respekt zollten meine Mann­schaftskollegen der DJK Dreientor allerdings nicht. Ganz im Gegenteil.

„Ein besseres Torschusstraining!“, meinte Verteidiger Dominik Prien und schüttelte seine lange schafspelzartige Mähne.

„Können wir ned a paar Spieler aus unserer C-Jugend mitnehmen, damit es wenigsten aweng interessant wird?“, fragte Torwart Andreas Stieler, der sich sichtlich Sorgen machte, nicht einen einzigen Ballkontakt abzubekommen.

„Alles unter zweistellig wäre eine Schande“, kommentierte selbst Willi, der es in seiner Funktion als Spielleiter eigentlich besser hätte wissen müssen.

Schließlich meldete sich auch unser Trainer zu Wort: „Jungs, wenn ihr heute ein Gegentor bekommt, dann seht ihr die ganze kommende Woche keinen Ball!“

Die Androhung eines derart exzessiven Lauftrainings hätte vor anderen Spielen ausgereicht, um der gesamten Mannschaft den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. Nicht so gegen Dreientor. Meine Kollegen saßen da und grinsten sich überheblich an.

„Gegentor“, prustete der junge Abwehrrecke Martin Kruse, als wäre dies das unwahrscheinlichste Ereignis der Welt.

„Und wenn wir zweistellig gewinnen, bekommen wir eine Woche trainingsfrei?“, handelte Flügelflitzer Niklas Dinger mit verschmitzter Miene.

„Trainingsfrei?“, polterte unser Trainer, dem es langsam aber sicher zu bunt wurde. „Da ihr heute so selbstsicher seid, möchte ich eine einwandfreie Leistung sehen, auch wenn der Gegner schwach ist. Wenn nur ein einziger Schuss auf unser Tor abgegeben wird, dann machen wir noch eine kleine aber feine Trainingseinheit nach dem Spiel!“

„Na toll“, stöhnte Bernd Hagen und rollte genervt die Augen. Er war ein herausragender Fußballer mit einer Abneigung gegen Bewegung. „Habt ihr wieder so lange getrommelt, bis ihr uns eine zusätzliche Laufeinheit beschert habt!“

„Noch hat Dreientor ja nicht aufs Tor geschossen. Wir müssen uns ganz einfach konzentrieren, dann darf doch gegen so einen Gegner hinten nichts anbrennen“, beschwichtigte Libero Klaus Meier.

„Haben die nicht einen neuen Trainer?“, fragte Kapitän Harald Gepard beiläufig.

„Irgendjemand aus dem Osten glaub ich“, antwortete Michael Meister.

„Macht euch keinen Kopf! Wenn er einen Trainerjob bei Dreientor annimmt, dann kann er ja nicht so stark sein. Sonst hätte es sicher bessere Angebote gegeben“, grinste Niklas Dinger, der dazu tendierte, alles und jeden auf die leichte Schulter zu nehmen.

Fünf Minuten nach dem Anpfiff führten wir bereits mit 1-0. Michael Meister hatte einen hanebüchenen Fehler der Dreientorer Verteidigung eiskalt ausgenutzt und den Ball am chancenlosen Torwart vorbeigespitzelt. Nach diesen fünf sehr einseitigen Spielminuten waren mir sofort zwei Dinge klargeworden. Erstens war Dreientor noch schlechter, als ich es nach den abfälligen Kom­mentaren meiner Kollegen erwartet hatte. Aber zweitens war ihr neuer Spielertrainer eine absolute Granate. Er flitzte uner­müdlich über den Platz wie ein kleiner kahlköpfiger Duracellhase, spielte Libero und Stürmer zugleich und war überall auf dem Spielfeld zu finden. Das war auch bitter nötig. Denn seine zehn Mannschaftskollegen waren an fußballerischer Unfähigkeit kaum zu überbieten. Als einzig Sehender unter zehn Blinden, mühte sich der arme Spielertrainer redlich, den Spielstand in Grenzen zu halten. Trotzdem gingen wir mit einer komfortablen 6-0 Führung in die Pause.

Und was noch wichtiger war: Dreientor war kein einziges Mal auch nur in die Nähe unseres Tores gekommen. Das angedrohte Sonderstraftraining konnte also noch abgewendet werden.

In der zweiten Halbzeit setzten wir unseren Einbahnstraßenfußball fort. Dreientor hatte nicht den Hauch einer Chance. Der verzweifelte, emsig rackernde Spielertrainer mühte sich vergebens. Es stand 13-0. Und fünf Minuten vor dem Schlusspfiff hatte sich Dreientor noch immer nicht näher als 30 Meter an Torwart Andreas Stieler herantasten können.

Dann aber passierte das Unglaubliche. Routinier Klaus Meier, der technisch versierte Ruhepol in der Abwehr­reihe, hatte an der Mittellinie den Ball. Der erfahrene Klaus verfügte über eine ausgezeichnete Spielübersicht. Sein geschultes Auge fand Michael Meister, und jeder­mann rechnete mit einem präzisen langen Pass. Statt­dessen zog Klaus den Ball mit der Fußsohle nach hinten, und der hochmotivierte gegnerische Stürmer, der unge­stüm herangeprescht war um das Zuspiel zu unterbinden, taumelte ins Leere. Genial! Klaus legte sich den Ball erneut zurecht, aber der Stürmer ließ nicht locker. Wutent­brannt rannte er auf unseren Libero zu. Klaus fackelte nicht lange und schob dem unbedacht angreifenden Gegner lässig den Ball durch die Beine. Riskant! Aber noch immer hatte der Dreientorer Stürmer nicht genug. Wie eine Dampfwalze steuerte er auf unseren eleganten Libero zu, der mir noch selbstbewusst zuzwinkerte, ehe er mit einem lockeren Hackentrick den Ball zu Martin Kruse weiterspielen und den gegnerischen Stürmer erneut ins Leere taumeln lassen wollte. Überheblich!

Der Ball versprang Klaus aufgrund einer kleinen Unebenheit des Rasens. Fassungslos mussten meine Mannschaftskollegen und ich mit ansehen, wie der Hackentrick genau in den Füßen des überraschten Dreien­torer Stürmers landete. Seine Augen funkelten. Er witterte die letzte Chance auf Ergebnisbeschönigung.

Unaufhaltsam rannte der gegnerische Angreifer auf unser Tor zu. Martin brauchte stets ein paar Augenblicke, um sich auf neue Situationen einzustellen. Wertvolle Zeit verstrich, in der zumindest Unglücksrabe Klaus die Ver­folgung aufnahm. Der in die Jahre gekommene Filigran­techniker hatte schon einen leichten Bauchansatz und war beileibe nicht mehr der Schnellste. Es war aussichtslos. Zwar hatten wir mit Andi Stieler einen guten Torwart, aber ein Torschuss reichte ja bereits aus, um uns eine zusätzliche Straftrainingseinheit zu bescheren.

Der Stürmer war noch 30 Meter von unserem Tor ent­fernt. Er hatte freie Bahn.

„Was zum Teufel macht er denn jetzt?“, murmelte ich entgeistert.

30 Meter vor dem Tor setzte der gegnerische Spieler plötzlich ohne jede Not zum Schuss an.

„Nein! Lauf doch weiter!“, rief der bemitleidenswerte Spielertrainer noch, aber es war bereits zu spät.

Der Stürmer holte mit dem Bein aus, als gäbe es kein Morgen mehr. Wir rechneten mit einem bombastischen Gewaltschuss, der gewiss unser Tornetz zerfetzte.

Mit geschätzten fünf Stundenkilometern kullerte der Ball in die Arme unseres prustenden Torwarts Andreas. Immerhin hatte der Dreientorer Stürmer den Ball noch gestreift. Dafür hatte er einen halben Quadratmeter Gras und Erde aus dem Rasen ge­treten, der in hohem Bogen durch die Luft flog und gefährlicher war als sein Tor­schuss.

Als der Schiedsrichter kurz darauf das Spiel abpfiff, kam Trainer Andreas Dietner schmunzelnd auf uns zuge­laufen.

„Das war doch kein Torschuss, Trainer! Der Ball wäre vor der Torlinie verhungert, wenn Andi ihn nicht gleich aufgehoben hätte!“, protestierte Niklas Dinger.

„Der Stürmer hat geschossen, der Torwart hat gehalten. Das ist für mich die Definition eines Torschusses. Also bringen wir es hinter uns. Alle in einer Linie aufstellen. Steigerungsläufe!“

Und so hatten wir das zweifelhafte Vergnügen, an einem harten Wochenende mit zwei aufeinanderfolgenden Spielen noch eine viertelstündige Sondereinheit dran­hängen zu dürfen. Steigerungsläufe, Spurttraining, Huckepack-Tragen – alles, was das Fußballerherz begehrt.

Hochmut kommt eben doch vor dem Fall!

Als ich mich nach dem Duschen abtrocknete, kam Kapitän Harald auf mich zu: „Hey Marco. Auf dem Rückweg von Dreientor liegt ein guter Grieche. Ein paar von uns gehen jetzt noch dort essen. Willst du mit­kommen?“

„Klar“, erwiderte ich. Eine gute Gelegenheit, mehr Anschluss in Weiherfelden zu finden. Das griechische Restaurant trug den Namen „Dionysos“ und hatte vorzügliches Essen. Der kleine lebhafte griechische Wirt Yannis stolzierte lächelnd von Tisch zu Tisch und brachte mit seinem spritzigen frivolen Charme alle Gäste sofort zum Lachen.

Wie es sich bei einem Griechen gehört, servierte uns Yannis als Vorspeise eine eiskalte Runde Ouzo. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Griechen handelte. Denn während ich meinen Ouzo wie üblich in einem Schnapsglas erwartete, bekamen wir unseren Ouzo in einem kleinen Fläschchen gereicht.

„Hier ticken die Uhren ganz einfach anders!“, freute sich Dominik Prien mit glänzenden Augen und stürzte seine hundert Milliliter in einem Zug hinunter.

Wie selbstverständlich trank der unterhaltsame Wirt Yannis an jedem Tisch ein Fläschchen Ouzo mit.

„Man lebt nur einmal!“, lachte er und stolzierte zurück in die Küche, um die köstlich duftenden Platten aufzu­tragen.

Ich hatte selten zuvor so gut gegessen. Mein Bauch war zum Bersten gefüllt, als Yannis sich mit einer Bouzouki bewaffnete, geschickt auf unseren frisch abge­räumten Tisch hüpfte und mit glasigen Augen ein altes griechisches Volkslied anstimmte.

Vier Ouzo später – meine Augen waren nun beinahe so glasig wie die des Wirts – lagen wir uns mit Yannis in den Armen und tanzten auf dem Tisch einen wilden Sirtaki.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich heil­froh, dass mein Zivildienst noch nicht begonnen hatte. An Arbeit wäre an jenem Montagvormittag nicht zu denken gewesen. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich von diesem teuflischen Griechen nach Hause gekommen war. Hämmernde Kopfschmerzen begleiteten mich aus meinem Zimmer. Ein Blick vor die Haustüre beruhigte mich. Mein Auto war nirgendwo zu sehen. Ich war also vernünftigerweise nicht mehr selbst gefahren. Gerade als ich ein erleichtertes „Das ist ja nochmal gut gegangen“ murmeln wollte, ließ ich mir das leckere griechische Essen vom Vortag noch einmal lautstark durch den Kopf gehen.

Titel: Sonntagsschüsse – Fußballfieber in der Kreisklasse

Amateur-Fußballer Marco Tanner muss sich als “Zugereister“ in die deftige fränkische Lebensweise einfinden, um bei seinem skurrilen neuen Fußballverein Fuß zu fassen.

Alle bisher veröffentlichten Kapitel