Sonntagsgedanken: Nur ein altes Märchen?
Ein kleiner Junge betritt die Straßenbahn. Er trägt ganz vorsichtig in beiden Händen ein Stück Holz. Die meisten Leute beachten ihn nicht. Nur eine ältere Dame fragt ihn halb neugierig, halb besorgt: „Was hast Du denn da?“ Stolz antwortet er: „Ich trage meine beste Freundin, eine Ameise, spazieren und zeige ihr die Welt!“
Ich spüre, dass der Bub noch ein Gespür hat für das Wunder, das Geheimnis der Schöpfung, dass er empfindet, was Albert Schweitzer einst „Ehrfurcht vor dem Leben“ nannte. Uns Erwachsenen ist diese heilige Scheu, diese Begeisterungsfähigkeit für die Schönheit der Welt längst abhanden gekommen.
Den Lobpreis der Schöpfung singt indes auch der sogenannte 1. Schöpfungsbericht (1. Buch Mose Kap. 1 – Kap. 2 V. 4). Die Israeliten sangen einst diese Zeilen, als sie in der babylonischen Gefangenschaft schmachteten. Wir könnten diese Verse als unwissenschaftlich, als Ausdruck längst überholter religiöser Vorstellungen abtun. Wir haben freilich keinen nüchternen Bericht vor uns, sondern einen aufwühlenden Hymnus der verzweifelten Menschen neue Lebenskraft schenken wollte und das noch heute tun kann. Da fällt zunächst die strenge Gliederung des Textes, der Schöpfung auf. Wir meinen ja oft, die Welt um uns her, die Welt in uns sei ein großes Chaos. Die Sorgen, die Nervosität des Alltags, die Konflikte in Familie und Büro mischen sich mit den Hiobsbotschaften aus aller Welt und schlagen uns aufs Gemüt. Doch diese Welt im Großen wie im Kleinen hat Gott gut geordnet. Gott sagt Ja zu seiner Schöpfung und damit auch Ja zu jedem einzelnen von uns. Darauf dürfen wir uns verlassen gerade in den dunklen Stunden.
Die Natur lässt uns wohl ahnen, dass es einen göttlichen Baumeister geben könnte. Doch dieser Naturgott bleibt ungreifbar. Wie sieht er konkret aus? Was will er? Meine Antwort finde ich auf einem norddeutschen Altarbild: Meister Bertram, ein Künstler des Mittelalters, sollte einst den Weltenschöpfer bei der Arbeit malen und er gab diesem König der Welt das Antlitz Jesu Christi. Erst im Leben, im Wirken, im Leiden und Auferstehen Jesu Christi verstehen wir Gott recht. Der gläubige, ganz nach Gottes Willen lebende Christus schenkte allen Menschen die Liebe Gottes, auch dem gesellschaftlichen Abschaum, er musste ans Kreuz gehen, um unser Bruder im Leiden zu werden, besiegte am Ostermorgen den grässlichsten Tod.
Weitere Sonntagsgedanken
Pfarrer Dr. Christian Fuchs, www.neustadt-aisch-evangelisch.de
Infos zu Christian Karl Fuchs:
- geb. 04.01.66 in Neustadt/Aisch
- Studium der evang. Theologie 1985 – 1990 in Neuendettelsau
- Vikariat in Schornweissach-Vestenbergsgreuth 1993 – 1996
- Promotion zum Dr. theol. 1995
- Ordination zum ev. Pfarrer 1996
- Dienst in Nürnberg/St. Johannis 1996 – 1999
- seither in Neustadt/Aisch
- blind
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