Universität Bayreuth: Neue Erkenntnisse zur Selbstverteidigung von Wasserflöhen
Viele „Gesichter“, gleiche Gene
Lebewesen können trotz gleicher genetischer Ausstattung ein völlig verschiedenes Aussehen annehmen. Wasserflöhe sind dafür ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Es handelt sich dabei, entgegen dem Namen, nicht um „Flöhe“, sondern um Süßwasser-Krebstiere, die als Plankton in stehenden Gewässern auf der ganzen Welt zuhause sind. Sobald sie ihre Fressfeinde aufgrund chemischer Botenstoffe identifiziert haben, ändern sie ihr Aussehen. Sie rüsten sich beispielsweise durch Helme, Stacheln oder sogenannte Nackenzähne, um die drohenden Gefahren abzuwehren. Diese flexiblen körperlichen Anpassungen an Fressfeinde, die in der Biologie als „induzierbare Verteidigungen“ bezeichnet werden, sind vor allem beim Bärtigen Wasserfloh (Daphnia barbata) sehr vielfältig ausgeprägt.
Diese Vielfalt haben Prof. Dr. Christian Laforsch, der an der Universität Bayreuth den Lehrstuhl für Tierökologie innehat, und sein Doktorand Dipl.-Biol. Quirin Herzog an der LMU München genauer untersucht. Im Fachjournal „BMC Biology“ stellen sie jetzt ihre Forschungsergebnisse vor. Wie sie in Experimenten entdeckt haben, bildet der Bärtige Wasserfloh einen langgezogenen Helm und einen langen Schwanzstachel, um sich gegen die auf dem Rücken schwimmende Wasserwanze Notonecta zu schützen; gegen den Urzeitkrebs Triops setzt er sich jedoch mit einem nach hinten gekrümmten Helm und einem krummen Schwanzstachel zur Wehr. Ohne die gefährliche Nähe zu diesen Fressfeinden würden sich derart differenzierte Abwehrinstrumente beim Bärtigen Wasserfloh niemals herausbilden.
„Wir haben es hier mit besonders auffälligen Beispielen für sogenannte phänotypische Plastizität zu tun“, erklärt Quirin Herzog. „Nicht nur bei Wasserflöhen, sondern bei praktisch jedem Lebewesen, auch beim Menschen, ist dieses Phänomen vielfach anzutreffen – etwa wenn die Haut unter dem Einfluss des Sonnenlichts braun wird oder wenn der Körper infolge von Impfungen gegen bestimmte Viren immun wird.“
Spezifische Abwehrmechanismen: Eine optimale Anpassung an die Umwelt?
Bieten die Abwehrmechanismen, mit denen sich die Wasserflöhe gegen unterschiedliche Fressfeinde wehren, jeweils den wirkungsvollsten Schutz? „Natürliche Selektion bedingt, dass sich Lebewesen optimal an ihre Umwelt anpassen“, erklärt Prof. Christian Laforsch. „Man sollte also annehmen, dass, wenn ein Organismus spezifische Abwehrmechanismen besitzt, diese jeweils die beste Verteidigung darstellen. Wir erwarteten daher, dass der krumme Helm, mit dem sich der Bärtige Wasserfloh gegen die Urzeitkrebse verteidigt, ihn besser vor diesen Fressfeinden schützt als der langgestreckte Helm, der gegen die Wasserwanzen gebildet wird.“
Umso überraschter waren die Wissenschaftler, als sie diese Hypothese im Labor überprüften. Zwar stellte sich heraus, dass der langgezogene Helm, verglichen mit dem krummen Helm, den Bärtigen Wasserfloh besser gegen die Wasserwanzen schützt. Doch wenn er sich gegen die Urzeitkrebse wehren muss, ist dieser Helm scheinbar ebenso geeignet – nicht schlechter als der nach hinten gekrümmte Helm.
Wie ist dieser Befund damit zu vereinbaren, dass Wasserflöhe optimal an ihre natürliche Umwelt angepasst sind? Ist im Verlauf der Evolution eine Vielfalt von Abwehrmechanismen entstanden, die für einen wirkungsvollen Schutz gegen natürliche Feinde nicht zwingend erforderlich ist? Dies ist eher unwahrscheinlich. Denn eine neue spezifische Verteidigung hätte sich, ohne einen besonderen Vorteil zu haben, nicht durchsetzen können; sie wäre gegebenenfalls durch eine bessere Verteidigung verdrängt worden und könnte neben dieser nicht existieren. Daher sehen die beiden Autoren der Studie zwei Möglichkeiten: Entweder es existiert ein noch verborgener größerer Nutzen der spezifischen Verteidigung gegen die Urzeitkrebse; oder diese Verteidigung besitzt denselben Nutzen wie die Verteidigung gegen die Wasserwanzen, verursacht aber dem Wasserfloh geringere Kosten und ist damit effizienter.
Um derartigen Zusammenhängen auf den Grund zu gehen, haben Prof. Christian Laforsch und Quirin Herzog ein neues Konzept entwickelt, das sie in „BMC Biology“ erstmals der Fachwelt vorstellen. Das Konzept unterstützt das Verständnis biologischer Systeme, in denen eine Tierart verschiedenen Arten von Feinden ausgesetzt ist. Es hilft dabei, solche Systeme zu kategorisieren und zu vergleichen – und soll letztlich auch das evolutionsbiologische Rätsel lösen können, weshalb der Bärtige Wasserfloh bei gleicher genetischer Ausstattung so viele verschiedene Gesichter hat.
Hintergrund:
Wasserflöhe sind heute für die wissenschaftliche Forschung vor allem aus zwei Gründen interessant: Zum einen pflanzen sie sich hauptsächlich durch „Jungfernzeugung“ fort, also eine natürliche Art des Klonens, bei dem Weibchen sich ohne Männchen fortpflanzen und wieder Weibchen hervorbringen. Zum anderen reagieren sie, wie nicht zuletzt an den „induzierten Verteidigungen“ gegen Fressfeinde deutlich wird, höchst sensitiv auf Veränderungen in ihrer Umwelt. Daher werden Wasserflöhe heute als Modellorganismen in der Ökologie, der Evolutionsbiologie, der (Öko-)Toxikologie und sogar in der biomedizinischen Forschung verwendet.
Veröffentlichung:
Quirin Herzog and Christian Laforsch, Modality matters for the expression of inducible defenses: introducing a concept of predator modality, in: BMC Biology 2013, 11:113,
DOI: 10.1186/1741-7007-11-113
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