Bamberger Professorinnen erklären Zensus und Ergebnisse
Niedrigere Einwohnerzahl, höhere Geburtenrate in Deutschland: Der Zensus, seine Ergebnisse und die Folgen
Am 31. Mai haben das Statistische Bundesamt und die statistischen Landesämter die ersten Ergebnisse des Zensus 2011 vorgestellt: Zum Beispiel verliert Deutschland ca. 1,5 Millionen Einwohner und die Geburtenrate ist in Folge höher als erwartet. Was der Zensus überhaupt ist und was diese Ergebnisse bedeuten, erklären die Statistikerin Susanne Rässler, Mitglied der Zensus-Kommission, und die Bevölkerungswissenschaftlerin Henriette Engelhardt-Wölfler. 1987 rebellierte ein ganzes Volk gegen den „gläsernen Bürger“ in einem „Überwachungsstaat“ und probte gegen die anberaumte Volkszählung den Aufstand. Protestkundgebungen und Demonstrationen erschütterten die Republik, doch gezählt wurde trotzdem und das hatte schon damals seinen Grund: Allein die Einwohnerzahlen bildeten die Basis für Dutzende von Rechtsvorschriften und sind auch heute noch Dreh- und Angelpunkt für die Berechnungen beim Länderfinanzausgleich, die Festlegung von Wahlkreisen oder die Besoldung von Bürgermeistern.
Doch neben den aktuellen Bevölkerungszahlen lieferte und liefert der Zensus auch Daten zur Berufstätigkeit, zu Bildung und Ausbildung, zur Nationalität, zum Migrationshintergrund und zu Familien- und Haushaltszusammenhängen und damit grundlegende Informationen zum Leben, Arbeiten und Wohnen der Menschen in Deutschland. Trotz dieser wichtigen Funktion dauerte es fast 24 Jahre, bis sich Deutschland, von den Erfahrungen aus dem Jahr 1987 offenbar nachhaltig beeindruckt, zum nächsten Zensus durchringen konnte.
Registergestützter Zensus statt Vollerhebung
Dass es vor und nach dem 9. Mai 2011, dem Stichtag, an dem in Deutschland der erste Zensus nach der Wiedervereinigung durchgeführt wurde, vergleichsweise wenig Protestaktionen gab, führt Dr. Susanne Rässler, Professorin für Statistik und Ökonometrie an der Universität Bamberg, auch darauf zurück, dass man aus der Vergangenheit gelernt hat: „Statt einer Vollerhebung haben die statistischen Ämter diesmal einen registergestützten Zensus (s. Glossar) durchgeführt und nur bei 10 Prozent der Bevölkerung, also ca. 8 Millionen Menschen, eine Haushaltsstichprobe (s. Glossar) gemacht. Dadurch kamen viele Bürger gar nicht unmittelbar mit dem Zensus in Berührung.“
Ein weiterer Grund sei die Einsetzung einer Zensuskommission gewesen, die seit ihrer Gründung im Jahr 2007 die Volkszählung und die Auswertung der Daten wissenschaftlich begleitet und mitgestaltet. Susanne Rässler ist selbst eines von neun Mitgliedern der Kommission und hat gemeinsam mit ihnen die Konzepte, Methoden und Verfahren des Zensus, die die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder entwickelten, überprüft, die Umsetzungen beobachtet und Empfehlungen formuliert. „Wir haben zum Beispiel von Anfang an großen Wert darauf gelegt, auch in der Bewerbung des Zensus aus den Problemen von vor 24 Jahren zu lernen, und dem Statistische Bundesamt geraten, die Hintergründe und Verfahren möglichst transparent zu machen, damit die Bevölkerung rechtzeitig und umfassend informiert ist.“
Ihre Mitgliedschaft in der Kommission verdankt Susanne Rässler ihrem Forschungsschwerpunkt Surveystatistik, der sich mit Fragen und Problemen der „Stichprobenziehung“ beschäftigt. Dazu zählen insbesondere Datenimputationen, also Verfahren, mit denen fehlende Daten in statistischen Erhebungen vervollständigt werden, oder Datenfusion, darunter versteht man die Zusammenführung von Daten aus unterschiedlichen Quellen.
Doch nicht immer war in der Kommission nur statistischer Sachverstand gefragt und nicht immer fanden ihre Empfehlungen auch Gehör: „Wir wurden zum Beispiel aufgefordert, uns über zusätzliche Informationen, die man erheben könnte, Gedanken zu machen. Daraufhin haben wir 10 weitere Merkmale vorgeschlagen, die wir für sehr wichtig erachtet haben, darunter, besonders bedeutsam für die Migrationsforschung, wie viele Kinder eine Frau hat“, so Rässler. „Sehr zu unserem Leidwesen wurde keines davon aufgegriffen und es blieb beim Pflichtkanon der EU. Wir hatten dagegen auch protestiert, aber man hat uns da leider nicht hören wollen.“
Auch bei konkreten Problemen hat die Kommission Hilfestellung geleistet, beispielsweise im Falle der sogenannten Auskunfts-oder Übermittlungssperre, die unter anderem für Adressen bei NATO3 Mitgliedern, Diplomaten, Menschen im Zeugenschutzprogramm oder Politikern gilt und die bei der Haushaltsstichprobe zunächst nicht berücksichtigt werden sollten. Dies allerdings, so war sich die Kommission einig, hätte zu so starken Verzerrungen bei der Ermittlung der amtlichen Einwohnerzahl geführt, dass die durch Paragraph 7 Absatz 1 des Zensusgesetzes vorgeschriebene Abweichung von maximal 0,5 Prozent nicht mehr hätte eingehalten werden können: „Stellen Sie sich vor, es handelt sich bei der zu überprüfenden Adresse um ein Hochhaus mit 30 Parteien, von denen nur eine geschützt werden muss. In diesem Fall hätten dann natürlich auch alle 29 anderen Parteien nicht berücksichtigt werden können, da sie ja unter derselben Adresse geführt werden“, erläutert Rässler. Dank des Einsatzes der Kommission konnte eine andere Lösung gefunden und die Adressen schließlich befragt werden.
Deutlicher Bevölkerungsrückgang von fast 2 Prozent
Seitdem ein Großteil ihrer Arbeit getan und der Zensus durchgeführt worden war, hat Susanne Rässler gemeinsam mit den anderen Kommissionsmitgliedern ungeduldig auf die Bekanntgabe der Ergebnisse gewartet. Am 31. Mai 2013 um 11 Uhr war es soweit. Das Statistische Bundesamt und die statistischen Landesämter haben die ersten Ergebnisse des Zensus 2011 vorgestellt und dabei Interessantes aufgetan: Zum Stichtag 9. Mai 2011 lebten nach den jetzt vorliegenden Ergebnissen des Zensus 2011 in Deutschland 80,2 Millionen Einwohner und damit 1,5 Millionen weniger als die Fortschreibung (s. Glossar) erwarten ließ. Besonders dramatisch ist die Lage in Berlin. Die Hauptstadt verliert rund 5,2 Prozent, also knapp 180.000 ihrer Einwohner, direkt gefolgt von Hamburg mit einem Verlust von 4,6 Prozent und damit ca. 83.000 Einwohnern. Im Vergleich liegen diese Verluste damit deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt, der ein Minus von 1,8 Prozent aufweist. Bayern hingegen kann aufatmen: 148.284 Einwohner zählt das Bundeland weniger, was einer Quote von 1,2 Prozent entspricht. Susanne Rässler ist von den Zahlen doch ein bisschen überrascht, die Bamberger Bevölkerungswissenschaftlerin Prof. Dr. Henriette Engelhardt-Wölfler nimmt sie hingegen gelassen auf: „Wir hatten einen Rückgang der Bevölkerungszahlen bereits erwartet, weil wir nach so vielen Jahren Abstand zum letzten Zensus mit einigen Karteileichen gerechnet haben.“
Als Demografin beschäftigt sie sich mit der Größe, Verteilung und den Strukturen einer Bevölkerung und untersucht die aus dieser Situation folgenden Konsequenzen für die wirtschaftliche und soziale Situation eines Landes. Ihre Arbeit beginnt also dort, wo die der Statistikerin Susanne Rässler aufhört. Auf die Frage, was denn solche sinkenden Einwohnerzahlen bedeuten könnten, bringt sie auch die EU ins Spiel: „Die Einwohnerzahl eines europäischen Landes hat unter anderem Auswirkungen auf sein politisches Gewicht innerhalb der EU, wobei man immer von der relativen Größe im Verhältnis zu anderen EU-Ländern ausgehen muss. Je mehr Einwohner, desto bedeutender die Stimme, denn die Bevölkerungsgröße der einzelnen Mitgliedsstaaten beeinflusst sowohl die Sitzverteilung im Europäischen Parlament als auch die Beschlüsse des Ministerrats.“
Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist der EU-Strukturfonds, der wirtschaftlich schwächeren Regionen dabei hilft, Standortnachteile abzubauen und Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung zu halten. „Auch bei der Mittelzuweisung aus dem Strukturfonds wird die Bevölkerungsgröße eines Landes mit berücksichtigt“, erklärt Henriette Engelhardt-Wölfler. „Geht es zum Beispiel um Unterstützung von Regionen mit Entwicklungsrückstand, werden nur die Regionen gefördert, deren Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner weniger als 75 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts betragen. Diese Regionen erhalten etwa zwei Drittel der Strukturfondsmittel. Sinkt nun die Bevölkerungszahl, sinkt auch das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner.“
Weniger ausländische Mitbürger als erwartet
Richtig überrascht war die Bevölkerungswissenschaftlerin von den Zahlen der in Deutschland lebenden Ausländer: Fast 15 Prozent, also 1,1 Millionen weniger Ausländer leben bei uns als bislang angenommen. Besonders signifikant sind die Abweichungen im Vergleich zur Fortschreibung in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern. In Bayern ging man bislang davon aus, dass ca. 1,2 Millionen Ausländer im Freistaat leben, was einer Quote von 9,6 Prozent entspricht. Der Zensus belehrte nun eines Besseren und ermittelte 200.000 ausländische Mitbürger weniger im Vergleich zur Fortschreibung, was einer Quote von nur noch 8,2 Prozent entspricht. „Gleichfalls überraschend ist der hohe Anteil von Personen deutscher Staatsangehörigkeit, die einen Migrationshintergrund haben, nämlich ca. 9 Millionen Personen, was einem Anteil von 12,3 aller Deutschen entspricht. Bayern liegt hier mit ca. 11,6 Prozent nur knapp unter dem Bundesdurchschnitt. Damit leben in Bayern zahlenmäßig mit 1,3 Mio. deutlich mehr Deutsche mit Migrationshintergrund als Ausländer“, so Engelhardt-Wölfler.
Beachtenswerte Konsequenzen hält der Zensus auch für die Messung des Niveaus der Fertilität bereit, die neben Mortalität und Migration das Hauptinteressensgebiet der Bevölkerungswissenschaft darstellt: Betrachtet man die dafür relevanteste Altersgruppe, also Frauen, die zwischen 1961 und 1981 geboren wurden, dann hätte sich ihre Gesamtzahl laut Fortschreibung auf knapp 23,2 Millionen Personen belaufen müssen.
Tatsächlich erbrachte der Zensus ein Ergebnis von ca. 22,6 Millionen und damit eine Differenz von knapp 600.000 Frauen in dieser Altersgruppe. Dazu Henriette Engelhardt-Wölfler: „Wenn die Geburtenzahlen stimmen, und davon können wir ausgehen, weil diese in den Krankenhäusern und Geburtshäusern registriert werden, dann würde dieses Ergebnis bedeuten, dass die Geburtenrate höher liegt als bislang angenommen.“
Die Höhe der Geburtenrate bzw. die der Geburten hat wiederum Auswirkungen auf die Bedarfs- und Infrastrukturkalkulationen bei Kindergärten und -tagesstätten, Krippen und Schulen, wie Engelhardt-Wölfler zu berichten weiß: „Am Beispiel Bambergs lässt sich das schön zeigen. Der Zensus zählt 9.900 Personen, die zwischen 1994 und 2011 geboren sind, was laut Fortschreibung eine Differenz von plus 300 ergibt. Damit erhöht sich natürlich der Bedarf an Kindergärten, -tagesstätten, Krippen und Schulen.“
Was diese und viele weitere Ergebnisse des Zensus im Einzelnen für Bund, Länder und Kommunen bedeuten, werden Henriette Engelhardt-Wölfler und ihr Lehrstuhlteam an der Professur für Bevölkerungswissenschaft in den nächsten Wochen weiter analysieren und erforschen. Auch Susanne Rässler hat noch ein bisschen Arbeit vor sich und blickt dabei in die Zukunft: „In der Zensus-Kommission erarbeiten wir gerade einen Katalog mit Vorschlägen, was man beim nächsten Zensus noch besser machen kann. Außerdem würden wir gerne eine Zensus-Forschergruppe gründen, was allerdings nur klappt, wenn wir auf die Rohdaten des Zensus zurückgreifen können.“ Bislang ist das aus datenschutzrechtlichen Gründen noch nicht möglich, doch die Kommission will sich für die Freigabe der Daten zu Forschungszwecken einsetzen: „Wenn die Daten tatsächlich nicht verwendet oder sogar gelöscht werden müssten, wäre das ein großer Verlust für die Wissenschaft, den wir natürlich verhindern wollen.“
Glossar
Registergestützter Zensus
Beim registergestützten Zensus stammt ein Großteil der benötigten Daten aus den Einwohnermelderegistern, den erwerbsstatistischen Registern der Bundesagentur für Arbeit sowie im Falle der nicht-sozialversicherungspflichtig beschäftigen Beamten, Richter und Soldaten von den öffentlichen Arbeitgebern. Diese Daten enthalten jedoch keine genauen Informationen zum Bildungsstand oder zur Wohnsituation, weshalb der Zensus durch eine Haushaltsstichprobe ergänzt wurde.
Haushaltsstichprobe
Darunter versteht man die persönlich Erhebung bei den Bürgern vor Ort zur Ermittlung der Daten, die nicht durch die Registerabfragen gewonnen werden konnten. Dazu zählen Angaben zu Schul- und Berufsabschlüssen, zur Erwerbstätigkeit oder zum Migrationshintergrund. Außerdem hilft die Haushaltsstichprobe bei der Ermittlung von Karteileichen und Fehlbeständen in den Registern.
Fortschreibung
Ermittlung der Einwohnerzahl durch Verwertung der Resultate der letzten Volkszählung von 1987
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