Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 90

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Die geheimnisvolle Adresse

Mill lief schon mal vor und stemmte die wuchtige Tür zur Uhlandstraße 14 auf. Die ausgetretenen Holzstufen glänzten und dufteten frisch gebohnert. Nach der kurzen Begrüßung mahnte Hans ruhelos und ungeduldig:

„Unser Zug fährt schon in anderthalb Stunden.“

Hedwig fiel auf, dass sein Gesicht nach der kurzen Zeit in Berlin kantiger geworden war. Frau Snura kochte noch schnell einen Tee. Die jüngsten Brüder bissen in ihre Margarineklappschnitten. Hans stand in seiner unvermeidlichen Lederjacke da. Frau Snura nahm Hedwig zur Seite und gab ihr den Zettel mit der geheimnisvollen Adresse. Hans erzählte seinen Brüdern, dass sie einen Grenzführer bekämen. Der kenne sich an der Zonengrenze aus, wie in seiner Westentasche. Auch verblüffte er sie noch mit einer seltsamen Behauptung, die sie sich nicht erklären konnten.

„Der ist Ritterkreuzträger.“

Was ein Ritterkreuzträger ist, das wussten Jank und Mill noch von Rolands Sammelalbum in der Sedanstraße. Was allerdings Rolands Album mit ihrer heimlichen Flucht zu tun haben sollte, das war ihnen rätselhaft. Eins spürten sie aber genau: Jetzt war keine Zeit für Fragen. Hans trieb noch einmal zur Eile an. Bald fanden sie sich nach kurzer Umarmung auf der Uhlandstraße in Richtung Bahnhof wieder.

„Und schreibt gleich, wenner da seid!“

Hedwig drehte sich um, blickte zum Fenster hinauf und winkte der Frau Snura zu. Die wischte sich ihre Augen mit ihrem Winktuch trocken. Hans und Jank sollten jetzt nach dem Willen ihrer Mutter auf der anderen Straßenseite gehen. Sie selbst wollte nur den Jüngsten dabeihaben.

„Mama, das ist der Westn hier. Erst, wennwer im Zug sind und in die Ostzone komm. Dann sollnwer zwei Gruppm machen, hat die Snura gesagt!“

Ihr lag es zwar auf der Zunge, ihn zu belehren, das es „die Frau Snura“ heißt, aber dafür, solche sprachlichen Feinheiten richtigzustellen, war sie jetzt viel zu gejagt und viel zu angespannt. Mill und Jank hatten das Wort Ostzone heute zum ersten Mal gehört. Es klang ihnen dunkel, fremd und bedrohlich.

Sie schluckten es stumm.

Am Bahnhof stand schon ein Zug auf ihrem Gleis. Es waren eigentlich nur fünf aneinander gekoppelte Wagons. Hans ging alle ab und zählte bloß zehn Leute, die schon da drin saßen. Die meisten schliefen oder dösten. Hedwig zog noch einmal den Zettel mit der Geheimadresse aus ihrer Manteltasche und fragte einen Bahnbeamten, ob der Zug auch an diesem Ort hält. Der Mann nickte nur.

Hans suchte den Wagon mit den wenigsten Leuten. Sie stiegen ein. Er setzte sich mit Jank zusammen. Hedwig nahm ihren Jüngsten ein paar Bänke weiter nach hinten auf die andere Seite, damit sie über den Mittelgang im Blickkontakt waren.

Ein kurzer Ankoppelungsstoß der Dampflok setzte sich durch die wenigen Wagen fort. Hans und Jank lehnten sich aus dem Schiebefenster. Steinkohliger Dampfgeruch zog herein. Bald war das Schienenwirrwarr des Hauptbahnhofs einer zweigleisigen Strecke gewichen. Die Schienenstöße kamen schneller hintereinander. Hans sagte von jetzt an alles, von dem er meinte, dass es wichtig sei, extra laut und deutlich in Hedwigs Richtung.

Angespannt und leicht nach vorne gebeugt saß sie da und kratzelte mit ihrem Daumennagel an der kleinen Warze von Mills Handballen. Der schlief selig, an ihre Seite gelehnt. Aus dem dunkelblauen Mantel mit riesigen Perlmuttknöpfen war er längst schon herausgewachsen. Jank hatte ihn damals vor nun fast vier Jahren auf der Flucht angehabt.

Es gab jetzt kein Oppeln und kein Drahnsdorf und kein Berlin mehr.

Alles, was sie hatte, waren ihre Söhne, ihre Tasche, der Zettel und ihre Angst. Es stimmte, was Frau Snura ihr gesagt hatte. Das war wirklich ein echter Bummelzug, der auch an den Bahnhöfen der kleinsten Nester hielt. An manchen stiegen Leute weder aus noch ein. Hatte sie nicht doch schon die entscheidende Station verpasst? Saßen sie überhaupt im richtigen Zug?

Jetzt erinnerte sie sich, dass der Eisenbahner eine Schnapsfahne hatte. Außerdem hatte der gar nicht geantwortet, nur genickt. Auf so einen ist doch kein Verlass. War das nicht doch bloß ein Gerücht, dass bei Zugkontrollen immer wieder Menschen herausgeholt werden, von denen man später nie wieder etwas hört? Diese beklemmenden Gedanken nagten in ihr und nährten damit ihre Ungewissheit. Aber sie entschloss sich, die Söhne mit ihren Zweifeln auf keinen Fall mehr verrückt zu machen. Ab und zu blieb der Zug auf offener Strecke stehen, fuhr dann sogar rückwärts. Düstere Bilder von der Flucht aus der Heimat stiegen in ihr hoch.

Der beginnende Oktoberabend ließ die Herbstfarben in der Landschaft draußen allmählich sterben. Ab jetzt musste sie besonders wachsam und geistesgegenwärtig sein. Die Schilder auf den Bahnsteigen dieser winzigen Orte waren ja meistens unbeleuchtet, blitzten nur flüchtig im blassen Flackerlicht der vorbeifahrenden Abteile auf. Seit den letzten zwei oder drei Dorfbahnhöfen machte sich kein Schaffner mehr die Mühe, auszusteigen und den jeweiligen Ort auszurufen. Noch nicht einmal ihre Fahrkarten waren kontrolliert worden. Sollte das vielleicht eine Falle sein?

***

„Das isses, Mama, wir sind da, wir sind da!“

Hans schreckte Hedwig aus ihren Gedanken hoch. Wie war es möglich gewesen, dass gerade sie diesen entscheidenden Moment verpassen konnte? Die Tasche fest im Griff, zog sie ihren schlaftrunkenen und verdutzten Jüngsten am Mantel zum Ausgang. Hans deutete auf das Schild an dem Bahnhofsgebäude. Die etwas abgeblätterten Buchstaben darauf zeigten dann auch wirklich den Ortsnamen, der auf ihrem Zettel stand. Das verlorene Häufchen von Menschen und die Stille ließen die späten Neuankömmlinge nur flüstern. Zwei Funzeln tauchten den Bahnhof in armseliges, trübes Licht.

Der Mann mit dem Rucksack war als Einziger mit ihnen ausgestiegen. Die ganze Fahrt über hatte er sein Gepäck nicht vom Schoß genommen. Hans hatte ihm von Anfang an nicht getraut und verfolgte ihn mit heimlichem Blick aus den Augenwinkeln, bis ihn das Halbdunkel des Ausgangs verschluckte. Inzwischen waren Lokführer und Heizer von ihrer Maschine geklettert, steckten sich gegenseitig eine Zigarette an und vertraten sich die Beine. Aus dem ersten Wagen hinter der Lokomotive stieg schließlich auch noch der Schaffner, gähnte, gesellte sich zu den beiden Rauchern und ließ seine Zigarette aufglimmen.

„Mama, ich frag mal, ob das hier Endstation is“, flüsterte Hans.

Seine Mutter winkte erschrocken ab und sah sich hastig um.

„Lieber nich! Sonst falln wir auf. Wer weiß!“

An dem Fahrradständer mit dem Wellblechdach vorbei gingen sie in den Ort hinein. Hans versuchte noch in der Dunkelheit herauszufinden, ob der Mann mit dem Rucksack sich nicht doch irgendwo am Fahrradständer versteckt hatte und dort auf sie lauerte. Langsam beruhigte er sich wieder. Die erleuchteten Fenster erfüllten Hedwig mit neuer Zuversicht.

Aus dem Roman “Mamas Rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Ebermannstadt.