Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 59
Leuna mit zwei Löchern
„Was issn Leuna?“
Mill wollte das von einem wissen, der schon rauchte.
„Du weeßt nich, watt Leuna is? Na, Leuna is Leuna. Habter dett mitjekricht? Der weeß nichma, watt Leuna is!“
Die anderen Raucher lachten nicht mal. Mill fühlte sich unbedeutend. Trotzdem ließ ihn Leuna nicht in Ruhe. An jedem Tag kutschierte nämlich zu den immer gleichen Zeiten ein seltsames Pferdefuhrwerk in beiden Richtungen über die holprige Dorfstraße. Ein gummibereifter Traktoranhänger, dem eine Pferdedeichsel angebaut worden war. Auf der offenen Ladefläche standen die vollen Milchkannen, wenn er zur Molkerei nach Wildau fuhr. Sie standen satt und schwer, wie festgeschraubt. Nur die Deckel klimperten das Lied, das ihnen vom Steinpflaster abverlangt wurde. Massig stemmte sich das Pferd in sein großes, schwarzes Kummet, um die leichte Steigung allein zu schaffen. An beiden Flanken war sein braunes Fell schon bis auf die dunkle Oberhaut abgewetzt. Trotzdem schienen Kutscher und Tier in einer stillen Eintracht zu sein, denn die Zügel hingen immer schlaff durch.
Der Wagenlenker saß in einem regendichten Häuschen mit einem Blechdach, das vorne überstand und damit auch sein Vorderfenster immer tropfenfrei halten konnte. Die Riemen der Lederzügel glitten durch zwei kleine, runde Löcher unterhalb der Frontscheibe. Seine Kutscherpeitsche steckte in einem Haltering, der außerhalb des regengeschützten Häuschens in die seitliche Ladeklappe eingeschraubt war. Sie fuhr eigentlich bloß so mit. Der Mann hätte sie in seiner gemütlichen Fahrerstube überhaupt nicht benutzen können.
Immer, wenn dieses wunderliche Fuhrwerk vorbeigekommen war, musste Mill auf ein Blechschild mit der roten Aufschrift LEUNA schauen, das bei der hinteren Ladeklappe an einem Draht herunterbaumelte, fast auf dem Pflaster schleifte.
Auf dem Rückweg von der Molkerei hörte man diesen sonderbaren Wagen schon von weitem. Nicht etwa durch den Hufschlag oder eine andere Gangart des Zugpferdes, sondern durch die glockenhell klingenden Milchkannen. Sie taumelten, stießen auf der Ladefläche erleichtert aneinander und ließen ihre tanzenden Deckel ein turbulentes Metallkonzert anstimmen. Wieder saß der Kutscher leicht nach vorne gebeugt auf seinem Bock in der Geborgenheit seines Gehäuses.
Jetzt fährt er wieder heim nach Leuna. Einmal da mitfahren zu dürfen, und wenn bloß bis zur Schule. Im Regen würde er da drin im Trockenen sitzen. Und wenn er erst einmal groß ist, dann würde er aber jeden Tag in so einem Wagen rumkutschieren. Für das Pferd würde er auch noch ein Dach an die Holzdeichsel schrauben, damit es schön trocken bleibt. Und Jank wäre dann der Einzige, den er mitnehmen würde.
Das waren seine unstillbaren, sehnsuchtsvollen Gedanken.
Überhaupt wunderte er sich, dass keines der Dorfkinder an seinem Leunawagen etwas Besonderes fand. Andererseits war er auch wieder froh darüber, denn dann gehörten Wagen und Zugpferd ihm allein.
„Mama, im Winter, da stellt der Leunamann seine Füße auf heiße Zieglsteine. Da brauchter dann nich zu friern.“
„Ich glaube, du verwechslst das mit deim Opa. Der hat sich doch immer heiße Zieglsteine aus der Wärmeröhre von seim Kachlofen ins Bett getan, wenns ihm kalt war. Aber das war doch in Oppeln. Dass du das noch weißt!“
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