Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 51

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Rolf Schrenker

Am Ortsausgang wohnte der Rolf mit seinen Eltern und jüngeren Schwestern. Der Vater hatte eine Gärtnerei.

Mit den Flüchtlingsbrüdern befreundet zu sein, das war dem Rolf unentbehrlich. Jeden Tag hatten sie neue Ideen, die sein bisher geordnetes Jungenleben auf lustige, interessante und manchmal abenteuerliche Wege führten.

Rolfs Vater war schwer vom Krieg gezeichnet, als er schon nach einem Jahr aus der Gefangenschaft heimkam. Er war halbseitig gelähmt. Kein Arzt hatte es gewagt, ihm die Granatsplitter herauszuoperieren, weil sie nahe dem Rückgrat steckten. Sie peinigten ihn mit unaufhörlichen, nagenden Schmerzen, die sein Leben verfinsterten und verbitterten. Der linke Arm hing ihm schlaff an der Hüfte herab. Seine bläulich verfärbte Hand sah aus, als ob sie mit ihm nichts zu tun hätte und als ob er sie eben nur so herumtragen würde.

Auf diese blaue Hand schauten die Brüder aber nicht mitleidig, sondern scheu und verständnislos. Es hieß einfach bloß: Der Schrenker hat eine blaue Hand. Und eine blaue Hand sieht eklig aus.

***

Die wenigen Männer, die vorzeitig, nicht ausgeheilt oder verstümmelt aus der Kriegsgefangenschaft heimkamen, verkrochen sich hinter den Fassaden ihrer Gehöfte, versuchten sich in Arbeit und strengten sich an, so zu tun, als ob es das alles nicht gegeben hätte. Von Siegen konnten sie nichts, von Niederlagen wollten sie nichts erzählen. Hinter schwarzer Klappe versteckte sich die leere Augenhöhle und man wartete auf das kleine Päckchen mit dem Glasauge, das aus der nahen Kreisstadt geschickt werden sollte.

Vor den Blicken der Kinder, die ihnen im Krieg groß und fremd geworden waren, exerzierten die alten und jungen Amputierten in der Abschirmung ihrer Höfe die allerersten Humpelversuche.

***

Ein paar Gehöfte weiter kniete Mill an einem großen Hoftor und lugte durch ein weites Astloch. Er hatte irgendwo aufgeschnappt, dass sie den jungen Bauern – so sagten die Leute – „zum Krüppel geschossen“ hätten und dass der jetzt schon mit seinem neuen Holzbein üben soll, ohne Krücken zu gehen.

Vielleicht könnte Mill einmal sehen, wie so ein Holzbein aussieht, wenn es sich nicht unter einer Hose versteckt. Außer ein paar scharrenden Hühnern konnte er aber nichts erkennen.

„Joachim, Abendessen!“

Das Unnachgiebige in der Stimme der Mutter riss ihn aus seiner Schaulust. Was sie sagen würde, wenn sie ihn so vor dem Astloch erwischt hätte, das war ihm klar. Er spürte, wie ihm das Gesicht heiß wurde.

***

Es muss Rolf einigen Mut gekostet haben, hinter dem Rücken seines finsteren, reizbarenVaters an dessen sorgsam eingelagerte Obstvorräte zu gehen, wenn den beiden Freunden öfter mal der Magen knurrte. Da öffnete sich dann lautlos ein Kellerfenster und Gärtnermeister Schrenkers unvergleichliche Boskop-Äpfel flogen, wie von unsichtbarer Hand geworfen, aus der Luke und landeten in den Händen der Brüder.

Besonders gern schloss er sich den beiden an, wenn ihre Pläne sie aus dem engen Ort hinaus in die freie Natur zogen. Wolfgang zeigte ihm, wie die Gabel einer Steinschleuder aussehen muss, aus welchem Holz sie sein sollte, welches Leder den Stein am besten hält und wie man den Schleudergummi aus altem Fahrradschlauch mit der Gabel verknotet, damit er beim Ausziehen nicht durchrutscht.