Zettels Reflexionen: Sich selbst auf die Schliche kommen wollen
Der Raum zwischen Reiz und Reaktion. Kürzlich hat mich eine Leserinn an diesen ‚Raum zwischen Reiz und Reaktion‘, erinnert, von dem Viktor Frankl oft spricht. Entsteht der Raum zwischen Reiz und Reaktion, dann kann in ihm die mögliche Wahl heraufdämmern, das Böse zu unterlassen.Ich sage danke für diese Erinnerung, den das ist eines der Mosaiksteinchen in meinem Denkgebäude. Oder vielleicht doch eher ein tragendes Element.
Es ist die eine Sache, mich nicht mehr an Werten zu orientieren zu suchen, wo es doch tatsächlich um Fakten geht. Aber eine ganz andere Sache ist es, den Emotionen keinen freien Lauf zu lassen, sondern einen einen Moment lang zwischen Reiz und Reaktion eine Pause zu machen, nicht um zu denken, sondern sich des Denkens in einem selbst bewusst zu werden. Viktor Frankl umschreibt dies so: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Schon oft habe ich erlebt, dass in dem Moment, in dem mit mein Denken bewusst wurde, ich mich schlagartig umentschieden und etwas ganz anderes gemacht habe. Es ist vielleicht dieser Moment der Selbstbewusstwerdung, der uns nicht zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ entscheiden oder wählen lässt, sondern etwas in uns tief in uns Liegendes, Verborgenes, etwas ganz Grundsätzliches sichtbar werden lässt; das was uns Menschen ausmacht, wir aber durch unsere Art zu Leben in uns zuge- und verschüttet haben.
Viktor Frankl berichtet weiter, wie den Häftlingen nicht nur das gesamte private Hab und Gut und das Kopfhaar genommen wurde, sondern auch Hoffnung und Würde. Als einzige Freiheit blieben die innere Haltung und die persönliche Entscheidungsfreiheit, „sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen“. Und er resümierte weiter: „Gerade eine außergewöhnlich schwierige äußere Situation gibt dem Menschen Gelegenheit, innerlich über sich selbst hinauszuwachsen.“
Ein Gedanke, der mir intellektuell richtig erscheint, den ich aber nicht nachempfinden kann, denn ich war noch nie in einer solchen Situation. Und da hilft mir auch meine Empathie nicht weiter, den emphatisch bin ich nur insoweit ich zumindest einen ähnlichen Schmerz selbst schon erlebt habe. Wie aber mich in einen anderen ‚hineinversetzen‘, dessen erleben ich selbst noch nie erlebt habe? Es wäre schlichtweg eine Lüge, wenn ein Mann behaupten würde, er könne nachempfinden, was eine Frau bei der Geburt eines Kindes empfindet, im Positiven wie im Negativen. Vielleicht gibt es diese Ebene, aber ich denke sie ist gut versteckt hinter all unserem Denken.
Die Kunst besteht darin, uns inmitten all der Reize, die ständig auf uns einwirken selbst zu führen, uns selbst an die Hand zu nehmen und uns daran zu hindern immer gleich loszurennen, bevor wir uns unserer Emotionen überhaupt bewusst geworden sind. Ständig werden wir mit Reizen überflutet und auf jeden Reiz reagieren wir. Auch wenn wir nicht reagieren, reagieren wir, in diesem Fall durch Ignorieren. Wir können auf etwas sofort reagieren, impulsiv und ohne darüber nachzudenken. Oder wir können mit Bedacht reagieren, um uns selbst Raum zu schaffen, damit überlegt werden kann, was in der Situation angemessen sein könnte. Es geht nämlich nicht um ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern um das der Situation Angemessene.
Instinktiv reagieren wir „gelernt“ auf Reize, getrieben von unseren Prägungen, Einstellungen und Glaubensmustern. Dann ist der Reaktionsraum gleich Null oder sehr klein. Aber dies muss nicht so bleiben. Den Reaktionsraum müssen wir selbst, bewusst und willentlich, schaffen. So können wir destruktive Reaktionsmuster, ausgedrückt in Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern, besser überwinden.
Um das „gelernte“ Reiz-Reaktion-Muster zu unterbrechen, bedarf es der Wachsamkeit. Wir müssen es lernen, selbst zu intervenieren, wenn wir im Begriff sind, auf einen Reiz zu reagieren. Es kann sehr hilfreich sein, sich selbst ein gedankliches „Stopp!“ zuzurufen, um eine möglicherweise ungünstige Reaktion zu vermeiden. Schon damit wachsen wir in gewisser Weise über uns selbst hinaus.
Wie wir auf Reize reagieren ist in der Konsequenz ein Spiegelbild unserer Entwicklung und unserer Freiheit. Selbst in Stresssituationen können wir unseren Reaktionsraum nutzen und aktiv und wirksam beeinflussen, wie Begegnungen, Gespräche, Auseinandersetzungen usw. verlaufen. Wir behalten die Kontrolle über uns und können uns selbst führen.
Peter Zettel
ist pensionierter Anwalt. Seit ein paar Jahren ist er begeisterter Motorradfahrer – sein persönlicher Weg der Selbsterkenntnis. Er interessiert sich für das, was die Welt bewegt und schreibt darüber in seinem Blog zettel.biz.
Alle bisher im Wiesentboten erschienen „Zettels Reflexionen„
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