Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 68
Romanepisoden von Joachim Kortner
Die Formelsammlung
Mitten in der Englischstunde klopft es. Im Türspalt der Kopf von Studienprofessor Hahlweg. Ein kurzes Lehrergeflüster.
Chorschüler raus, sagt der Dschenneräl. Extraprobe im Musiksaal. Der Hahlweg sagt im allgemeinen Stimmengewirr irgendetwas von aktuellem Anlass. Todesfall. Hektografierte Notenstapel werden durchgereicht. Wenn ich einmal soll scheiden. Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig ist der Menschen Leben.
Welcher Lehrer? Die Namen der älteren werden weiter geflüstert. Der Hahlweg übt mit Sopran und Alt. Da ist man lieber still, wenn man gerade nicht dran ist. Da ist er straff, manches Mal rigoros. Dafür ist er bekannt.
Ein Name ist trotz der Disziplin durch die Schweigemauer gesickert. Der Farr. Kein Unfall. Darmverschluss.
Die Köpfe senken sich, bewegen sich langsam in ungläubigem Entsetzen. Jakob kann ihn noch nicht kennen. Sein erstes Jahr auf dieser Schule. Der Hahlweg sagt, dass es dem Farr gegen- über ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit sei, beim Einüben gefälligst die Schnauze zu halten. Mit seinen Gefühlen kann Jakob da nicht mithalten. Aber er bemüht sich um ein Gesicht, das dazu passt.
*
Der Chor im Bus. Irgendwie dunkler sollten alle schon angezogen sein, hat der Hahlweg ihnen gesagt. Drei Stunden fallen aus.
Auch nicht schlecht, denkt er. Aussprechen kann er es nicht. Schlecht wird ihm allein schon von dem Dieseldunst im Omnibus. Und dann noch das Geschaukle. Von zu Hause hat er sich eine gefaltete Tüte aus Wachspapier mitgenommen. Sollte er kotzen müssen, dann würde er sich wenigstens nicht vor den Mädchen blamieren. Am Krankenhaus vorbei, ein Vorort und dann links ab. Die Übelkeit steigt langsam in ihm hoch. Aus dem Fenster der Blick über eine beschnittene Hecke aus Lebensbaum. Hölzerne Kreuze und Grabsteine. Der Bus rollt aus.
Gerettet. Nur noch hinaus in die frische Luft. Auf festem Boden stehen. Wenn ich einmal soll scheiden und Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig hat er auf der Gepäckablage liegen lassen. Der Fahrer hat die Presslufttüren schon geschlossen, geht in der Dorfwirtschaft einen heben.
Er wird einem Mitschüler über die Schulter schauen müssen. Muss aufpassen, dass der Hahlweg das nicht mitkriegt. Viel zu früh sind sie da. Von Trauergästen weit und breit nichts zu sehen. Am Leichenhaus ein gummibereifter Handwagen mit Deichsel. Darauf das provisorische Holzkreuz. Eingebrannt Ingo Farr. Zwei Mädchen vom Chor stehen davor, weinen. Gedämpft sagt einer, dass die mal Nachbarn von dem waren. Vor der Tür des Leichenhauses hat sich eine kleine Warteschlange gebildet.
Wer will, könne noch von dem Farr Abschied nehmen, sagt der Hahlweg. Jakob weiß, wie ein Mann nach einem Bombenangriff aussieht. Auch den zehnjährigen Siggi hat er schon gesehen, der wegen dieser aufgeklopften Granate verblutet war. Wie sein Opa auf dem Totenbett und ihre Vermieterin Julie Rathke im Sarg gelegen haben, hat sich ihm unauslöschbar eingeprägt.
Einen Mitschüler, der mit sechzehn an einer Krankheit gestorben war, das hatte er noch nie erlebt. Um Fußbreiten schiebt sich die Schlange der Chorsänger an den offenen Sarg heran.
Kerzenflammen flackern auf silbernen Leuchtern im Zug der offenen Tür. Er steht mit einem Mal ohne die Deckung eines Vordermanns an der roten Trennkordel vor dem Farr. Sie haben ihn in einen schwarzen Anzug gesteckt. Eine silbergraue Krawatte.
Wie bei einem alten Mann. Sein widerspenstiges Haar haben sie ihm nach hinten gekämmt, ihm die Finger zum Gebet verschränkt. Das Gesicht gelblich, graue Flecken um die Augenhöhlung. Erst jetzt erkennt er ihn. Eine kurze Verbeugung. Das war also der Farr, der ihn vor einer Woche auf dem Pausenhof um die Formelsammlung gebeten hatte. Mathe-Schulaufgabe. Er sei sonst aufgeschmissen. Seit der Zeit hat er ihn in der Pause nicht mehr gesehen.
Der Hahlweg drängt den Rest seines Chors hinaus ins Freie. Rücksicht auf die Verwandten. Die Stimme des Pastors verweht draußen. Der Posaunenchor. Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Vier Träger in dunklen Umhängen und Schildmützen. Sie heben den Farr auf den Handwagen. Aus den Verästelungen der Gräberwege schiebt sich ein schwarzer Strom nach, füllt den halben Friedhof aus. Der Hahlweg winkt sich seine Leute zusammen, geht mit ihnen einen Umweg, um von hinten noch in die Nähe des Grablochs zu kommen. Halbkreis, Noten bereit halten. Die Mutter vom Farr ist inzwischen zusammengesunken, hat Hut und Schleier verloren, wird gestützt. Die Stimmgabel. Die vier Anfangstöne. Seltsam, wie matt die Choräle unter freiem Himmel klingen. Einer vom Sportverein spricht. Dann der Klassensprecher. Er redet den Farr mit Ingo und Du an, spricht ins offene Grab hinunter. Händeschütteln und Erde schaufeln wollen kein Ende nehmen.
Der Busfahrer ist inzwischen auch auf dem Friedhof erschienen. Er flüstert mit dem Hahlweg. Blick auf die Armbanduhr. Noch schnell Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig. Nur die erste Strophe. Geschlossener Abmarsch. Schweigen bis zum Bus.
Der Fahrer ist im Verzug, hat noch eine Schicht Berufsverkehr vor sich. Auf der Rückfahrt nach Coburg wird es Jakob nicht schlecht werden. Das weiß er einfach. Nach dem Essen wird er sich auf sein Rad setzen und sich vom Pilgramsroth hinunter in die Stadt rollen lassen. Freihändig. Beim Riemann am Markt wird er sich eine Formelsammlung kaufen.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
Neueste Kommentare