Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 57

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Wartburg 313

Tante Lisa hat ihren Lieblingsneffen Roland nach Erfurt eingeladen. Ins thüringische Rom, wie sie schreibt. Nur, dass es die Peterskirche nicht mit dem Erfurter Dom aufnehmen kann. Seine drei jüngeren Brüder wären nicht ums Sterben dahin gefahren. Sowjetisch besetzte Zone. Wie sich das schon anhört. Ihre Flucht durch den novemberkalten Grenzfluss ist Jahre her, aber lebendig in Erinnerung. Und dahin reisen, wenn auch nur zum Tantenbesuch? Nie!

Oben auf der Coburg dieses Aussichtstürmchen mit Eisengeländer. Wohl an die hundertmal haben sie schon hier gestanden.

Das da hinten im Dunst mit dem großen dunklen Ding ist Neustadt mit seinem Gaskessel, hatte die Mutter ihnen erklärt. Und noch ein bisschen weiter könnt ihr Sonneberg sehen. Aber das ist schon drüben. Da werden wir nie wieder hinreisen. Im ganzen Leben nicht.

Jedes Mal geht ihr Blick von hier oben zwanghaft zu dem finsteren Gasmonstrum, um dann dahinter dieses verschwommene, unwirkliche Sonneberg zu fassen. Keine heimliche Sehnsucht.

Eher ein wohliges Gruseln, dieser Umklammerung gerade noch entkommen zu sein.

Im neuen Blaupunktapparat die Tagesschau. Massenaufmärsche mit Fahnen. Die jungen Leute in Hemden mit Halstüchern. Auf der Tribüne die alten Männer mit dem gefrorenen Lächeln. Walter Ulbricht, der fistelstimmige Spitzbart. Mal mit Hut und Mantel, mal wampig im Kurzarmhemd seine Tischtennispatsche schwingend. In beiden Stadtzeitungen regelmäßig Artikel über Schüsse an der Zonengrenze, abtransportierte Erschossene.

Hochgegangene Tretminen, zerfetztes Rehwild und Flüchtlinge mit abgerissenem Unterschenkel. Verblutet.

*

Roland, inzwischen Journalist, wittert die Chance zu einer Reportage. Bedeutende Zeitungen werden ihm seine Artikel aus der Hand reißen, glaubt er. Die Leute da drüben wird er befragen. Vor Ort. Über ihren Alltag. Vor den Fabriken will er stehen. Herausfinden, was die Zonis wirklich denken, was sie bewegt. Ehrlich wird er schreiben und provokativ. Und endlich mal wird er auch richtig dickes Geld verdienen. Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, davon redet er zu den Brüdern.

*

Eine Postkarte mit blassblauer Spitzbartmarke.

Bin gut gelandet.

Sonst kein Lebenszeichen in den nächsten zwei Wochen. Die Mutter beginnt, sich Sorgen zu machen.

Eines Tages steht er unangemeldet wieder vor der Tür. Sie hätten ja nicht die blasseste Ahnung. Die Wirklichkeit wäre ganz anders. Alles nur Propaganda und Hetze hier im Westen. Das sei da drüben gar kein Kommunismus sondern Sozialismus. Einen persönlichen Stadtführer hat er gekriegt. Sogar privat ist er eingeladen worden. Irre interessante Gespräche hat er geführt. Aber an der Grenze die Schüsse, wendet Jakob ein. Nur auf Agenten, Schmuggler und andere Schmeißfliegen. In einem Jugendclub hat er ein absolutes Wahnsinnsweib kennen gelernt. Neunzehn, blond, Figur wie die Bardot. Und sie wird versuchen, dass sie bald mal rüber kommen kann. Dazu bräuchte man halt Beziehungen. Aber die kennt da entsprechende Leute. Getanzt hätten sie. Wange an Wange. Sogar zu Westmusik. Louis Armstrong und Elvis kennen die da drüben alle.

Die jüngeren Brüder hören das Zweifingergehacke der Schreibmaschine.

Ein Brief. Wieder so eine Spitzbartmarke. Nichts für Jakobs Album. Aber nicht die gewohnte altdeutsche Tantenschrift aus Erfurt. An Herrn Roland Kottke. Statt eines Absenders ein lippenstiftiger Kussmund auf der Rückseite des Umschlags. Nach süßlichem Parfüm duftet der und wird den unwürdigen Händen des jüngsten Bruders entrissen. Der Verliebte knallt seine Tür zu und sperrt sich in seinem Zimmer ein.

Bald erfährt es der Rest der Familie. Franziska, seine Flamme von jenseits des eisernen Vorhangs, kommt zu Besuch. Sie hat es tatsächlich möglich gemacht, sicher durch ihre guten Beziehungen. Die Mutter sagt was von Klappcouch. Roland winkt ab. Denn leider muss seine Franziska noch am selben Tag wieder drüben sein. Ihr Onkel wird sie nach Coburg fahren. Als Anstandswauwau, schreibt sie mit vielen hihihi in Klammern. Die Brüder und Eltern werden Bauklötze staunen, wenn sie seine Wahnsinnsfrau sehen. Die könnte glatt zum Film.

*

Der Besuchstag. Jakob und Andi haben Ferien. Die Wohnung gewischt, gebohnert und aufgeräumt. Zwei große Beutel mit dem Blätterteiggebäck vom Cafe Schubart und den unvergleichlichen Quarktaschen der Konditorei Modschiedler liegen in Bereitschaft. Der teuerste Bohnenkaffee musste es sein, filterfein gemahlen. Immer wieder wandert Rolands Blick durch die Gardine zur Straße hinunter. Dann geht er sogar vor das Haus, beugt sich über die Bordsteinkante, als erwarte er die Ankunft eines Zuges. Er hat heute noch nicht geraucht, sondern den Mund schon zweimal mit Vademecum gespült. Wahrscheinlich ist da was dazwischen gekommen. Autopanne oder so was. Er geht ins Haus. Liest noch einmal ihren Brief, riecht am Umschlag.

Es läutet. Er stürzt ans Fenster. Die Mutter öffnet. Sie sind da.

Er hat nicht übertrieben. Eine atemberaubende Schönheit hier im Bohnerwachsduft der Sozialbauwohnung. Mit gekonnten Manieren stellt sie sich und ihren Onkel vor. Knisterndes Zellophan, geschenkverpackt, wird überreicht. Eine thüringische Kuchenspezialität. Roland ist den Formalitäten dankbar, kann im Bad noch schnell seine schüttere Haarstelle überkämmen. Unter der Beobachtung von Onkel, jüngeren Brüdern und Mutter umarmt sich das Liebespaar nur zögernd. Kaffeetafel. Jakob und Andi bestaunen die Schönheit aus dem Osten. Jeder auf seine Art. Der eine mit unverhüllter Anbetung, der andere mehr aus dem Augenwinkel. Das flachsblonde Haar, in einem lustigen Pferdeschwanz gebändigt. Diese Lippen, immer etwas offen, zeigen ihre makellosen Zähne. Unter dem Tisch spielt das verliebte Paar mit den Füßen.

Das ausgerechnet ein Arsch wie Roland so eine abkriegt. Kein Vergleich mit seiner letzten Verflossenen aus der katholischen Jugend. Der Onkel zwar höflich, aber meist still dem Tischgespräch folgend. Die Mutter will ihm nachschenken. Schützend hält er die Hand über die Tasse. Die Pumpe. Er bekommt Apfelsaft. Blätterteig und Quarktaschen sind auf Anstandsreste geschrumpft.

Schade, dass mein Mann zur Zeit auf Kur in Bad Bocklet ist. Der hätte sie gerne kennen gelernt.

Sie lächelt. Roland entführt Franziska in sein Zimmer, will ihr aus seinem Artikel vorlesen. Das Gespräch im Wohnzimmer kommt auf Autos. Der Onkel taut etwas auf, spricht von Wartburg, Trabant und den Vorteilen des Zweitaktmotors. Mit seinem neuen Wartburg ist er angereist, erzählt er. Ob sie ihn sehen wollen. Alles drängt sich ans Küchenfenster. Ein feuerrotes, offenes Cabriolet parkt auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Bald stehen sie davor. Weißwandreifen. Kühlergrill, Radkappen, Stoßstangen in blitzendem Chrom. Sogar Ledersitze. Wie in teuren Westwagen. Auf der Kühlerhaube in verchromten Buchstaben Wartburg 313. Der Onkel sagt, dass der einhundertvierzig Sachen macht, dabei nur sechseinhalb Liter Gemisch schluckt. Sie tun, als ob sie auch schon etwas von Autos verstehen, nicken, gehen um den Ostwagen herum, kicken mit den Schuhspitzen an die Reifenwand. Die Mutter hat sich ein Kissen unter die Ellenbogen gelegt und verfolgt die Szene vom Küchenfenster des ersten Stocks.

Mama, einhundertvierzig Sachen und bloß sechs Komma fünf Liter Gemisch.

Sie nickt, lächelt Jakob zu.

Franziska und ihr Onkel müssen noch am selben Tag wieder drüben sein. Sonst darf sie nicht mehr in den Westen kommen, sagt sie. Schick sieht sie aus, mit der großen, runden Sonnenbrille, dem türkisblauen Tuch um das blonde Haar. Wegen dem Fahrtwind. Den Onkel mit Autofahrerhaube und schwarzer Sonnenbrille kann man kaum wieder erkennen. Da vorn bei der Straßengabelung könnten sie wenden, dann würden ihnen alle noch einmal zuwinken, erklärt die Mama. Roland sieht vom Kü- chenfenster aus zu. Er hat sich schon oben verabschiedet, will sie nicht mit der Familie teilen. Das rote Cabriolet kommt noch einmal vorbei, hält sogar an. Den thüringischen Schmandkuchen sollten sie sich schmecken lassen. Franziska strahlt. Der Onkel gibt Gas. Blauer Rauch. Alles winkt.

Bloß ein Zweitakter, meint Jakob abschätzig. Dass die immer so stinken müssen. Na ja, Ostzone.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839