Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 44
Romanepisoden von Joachim Kortner
A.C.I. und N.C.I.
Nur eine Wand trennt den Klassenraum vom Musikzimmer. Jakob sitzt mit Andi in derselben Bank. Da drüben übt der Studienrat Königsdorfer mit Tenor und Bass die Männerstimmen für die Weihnachtsfeier ein. In der sechsten Stunde sind dann sie dran mit Sopran und Alt.
Zwei Tafelflügel hat ihr Englischlehrer mit Grammatik voll geschrieben, die Überschriften mit roter und grüner Kreide markiert.
Linke Tafel: Accusativus cum Infinitivo = A. C. I.
Rechte Tafel: Nominativus cum Infinitivo = N. C. I.
Beispielsätze in Rot und Grün.
They expect the train to arrive ten minutes later.
The train is expected to arrive ten minutes later.
Der Radmacher ist der einzige Lehrer mit einer schönen Handschrift. Nicht so eine Sauklaue wie die meisten anderen. Bei dem macht sogar die Grammatik etwas Spaß. Alles hübsch sauber mit Farbe, Lineal und Einrahmung. Irgendwann hatte ihm irgendwer den Spitznamen bikemaker verpasst.
Der Königsdorfer drüben im Musikraum scheißt seine Männerstimmen zusammen. Es klopft. Im Türspalt das Brillengesicht der Sekretärin. Sie winkt sich den bikemaker von der Tafel zur Tür, flüstert ihm etwas ins Ohr. Der bikemaker wendet sich an Jakob und Andi. Sie packen leise, schauen sich dabei nicht an, schultern die Taschen und verschwinden unter neidischen Blicken.
Dem Opa geht es nicht gut. Sie sollen zum Judenberg kommen.
Draußen im Gang die Anoraks. Wortlos hasten sie nebeneinander her. Schneematsch spritzt unter den Sohlen weg. Den Glockenberg hinunter, durch die Steingasse zum Marktplatz. Unter 1den blauen Schwaden der beiden Bratwurstbuden tauchen sie durch, hasten in die Judengasse hinein. Dann über die steinerne Judenbrücke zur Bahnunterführung. Erst am steilen Judenberg stellt sich bei Jakob das Bild vom Opa ein.
Die roten Kleckerpunkte auf dem Kissen. Vom daneben gegangenen Stärkungssaft. Irgend so ein Zeug mit Eisen gegen seine blassgelbe Gesichtsfarbe flößt ihm die Tante da jeden Tag ein.
Das Zeug schmeckt ihm nicht. Jakob kann ihn verstehen, hat schon mal innen am Deckel geleckt. Die braune Baskenmütze auf dem Kopf. Nicht so schräg, wie sie die Franzosen im Film tragen. Immer ganz gerade sitzt die. Silberne Barthaarinseln, von Tante Helenes Rasiermesser nicht erfasst.
Der Stadtomnibus mit dem Mohrenwappen quält sich bergauf an ihnen vorbei, dieselt sie mit seiner Qualmwolke ein.
*
Droben in der Küche. Der ernste Vater, Tante Helene verflennt.
Zwei große Henkeltassen auf der Wachstuchdecke. Sie lassen ihre Schulranzen von der Schulter gleiten, blicken den Vater fragend an. Der nickt. Jakob drückt die schiefe Klinke. Ein Fensterflügel steht weit offen. Die Gardine weht ins Zimmer herein.
Der Opa hat noch ein zweites Kissen untergelegt bekommen.
Sein bleiches Gesicht heute fast weiß. Sie haben ihm die Hände gefaltet und ihm seinen Rosenkranz um die Finger gewickelt.
Die braune Baskenmütze hat er nicht mehr auf. Es kann ihn jetzt nicht mehr am Kopf frieren. Jakob steht am Bett. Ein bisschen schämt er sich, dass er nicht weinen kann. Ein ausgefallenes Härchen von Opas Augenbrauen liegt auf der Nasenspitze. Er nimmt es mit Daumen und Zeigefinger. Ohne die bleiche Haut zu berühren.
Immer wieder hatte er sich vorgenommen, den Opa etwas Wichtiges zu fragen. Ob er damals beleidigt war, als sein Sohn sich von Komorowski in Kottke umtaufen ließ. Weil sich Komorowski so polnisch anhörte. Und weil der Hitler das kostenlos gemacht hatte. Als ob er sich für den Namen seines Vaters schämt.
Ein Name mit K musste es aber sein, weil jedes Teil der Aussteuerwäsche schon mit diesem Komorowski K bestickt worden war.
Jetzt ist es zu spät zum Fragen.
Jakob Komorowski klingt doch auch gut.
Und wenn ihn einer wegen Komorowski auslacht, dem würde er schon die Fresse polieren.
Und wenn der Opa dabei vom Himmel herunter schaut, dann wäre er bestimmt stolz auf ihn, den Jakob Komorowski.
Er geht zur Tür, dreht sich noch einmal um und sagt Opa. Andi kommt herein, steht hilflos am Bett.
In der Küche liegt der Totenschein auf dem Büffet. Die Unterschrift vom Doktor Trapp kennt Jakob schon von den vielen Rezepten für Julie Rathke, mit denen er früher zur Hofapotheke gegangen ist. Dasselbe unlesbare Geschnörksel.
Am Nachmittag holen sie sich noch vom Fechner aus der Bahnhofstraße das Englischheft mit dem A.C.I. und dem N.C.I. Beim Bikemaker muss man immer mit einer Ex rechnen.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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