Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 38

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Das Gewächs in Luckau

Der Christbaum fing schon an, bedenklich zu nadeln, aber die Brüder konnten sich nicht von ihm trennen. Zu dieser Zeit sah Mill, wie seine Mutter gerade ihr Nachthemd mit den bunten Blümchen und Unterwäsche in einen Koffer packte. „Mama, wohin fahrn wir denn?“

„Ich muss bloß mal kurz nach Luckau ins Kranknhaus.“

Sie versuchte, ihrer Stimme einen alltäglichen Ton zu geben.

„Aber du bist doch ganich krank.“
„Is ja auch nischt weiter. Ich lass mir bloß ein kleines Gewächs wegmachn.“

Einen kurzen Anflug lang wurde ihm seine Mama fremd. Da gab es also etwas, das in seiner Mutter wächst und von dem er nichts wusste. Ein unsichtbares Ding in ihr drin? Was konnte das sein? Auf jeden Fall nichts Gutes, denn sonst müsste man es ja nicht wegmachen. Er fragte lieber nicht. Ihm war nämlich schon öfter aufgefallen, dass sie vertraulich und leise mit Adelheid Lettau redete.

„In einer Woche bin ich ja wieder da.“

Er spürte genau, dass sie so etwas nur zum Trost gesagt hatte. Aber seine düstere Stimmung konnte sie damit nicht aufhellen. Um nicht wieder eine Achtlippe aufkommen zu lassen, schleppte er den Koffer allein zum Handwagen. Jank und Mill zogen ihn beide auf dem Ratterpflaster bis zum Bahnhof. Mill nahm einen kantigen Stein vom Gleiskörper.

„Mama, kuckma, wie weit ich werfm kann.“
„Jetz ist der Stein auf dem Acker. Da muss ihn der Bauer extra wegen dir wieder aufhebm. So was macht man nich.“

Eigentlich hatte er ihr schon oft gezeigt, wie weit er Steine werfen konnte. Er wusste bloß nicht, was er zum Abschied sagen sollte.

„Er kommt!“

Jank wusste es, weil er ein Ohr an die Schiene gelegt hatte, um so auch seine Verlegenheit zu verstecken. Der Zug hielt unter betäubendem Kreischen. Sie umarmten sich in den weißen, abgeblasenen Dampfwolken und schon winkten sie dem aufgetauten Guckloch zu, in dem das Gesicht ihrer Mutter davon- schwebte.

Wie ein schwarzes Loch lag vor beiden eine mamalose Zeit.
Und dass die Adelheid Lettau jetzt auf sie aufpassen sollte.
Und dass der Hans jetzt noch mehr zu sagen hatte.

An Mamas Operation und ihre Angst davor, ihre Schmerzen, oder dass sie vielleicht nie mehr zurückkommen könnte, dachte keiner.

Mamas können nicht sterben.

***

Adelheid Lettau schickte Jank und seinen Bruder nach einer Woche zum Bahnhof. Beide wollten der Mutter stolz ihre Schuhe zeigen. Mit Landmaschinenfett hatten sie das Leder gegen den Schneematsch wasserdicht gemacht.
Sie liefen dem ausrollenden Wagon hinterher. Vorsichtig stieg sie über die Treppenroste auf den Bahnsteig herab. Blasser und schmaler war ihr Gesicht geworden. Ein älterer Mann reichte ihren Koffer aus dem Schiebefenster. Jank lud ihn auf den Wagen. Sie nahm Mills rechte Hand und fing an, wie so oft mit dem Fingernagel an seiner kleinen Warze zu kratzen, die er am Handballen hatte. Erst jetzt war die Welt für ihn so, wie sie immer bleiben sollte.

Eine Frauensache sei das gewesen, konnte Mill aus dem gedämpften Gespräch seiner Mutter mit der jungen Bäuerin mitbekommen. Als sie dann noch eine Einlaufsuppe aus geröstetem Grieß, verquirltem Ei und einem Maggiwürfel kochte, da war es fast wie Weihnachten.