Sonntagsgedanken: Nächsten- statt Fernstenliebe

Pfarrer Dr. Christian Fuchs

Pfarrer Dr. Christian Fuchs

In einem alten Schulbuch las ich etwa folgende Geschichte: Der Erzähler trifft seinen Freund Karl, einen energischen, engagierten Mann. „Was haben Sie heute denn so alles gemacht?“ fragt er ihn. „Ja, Sie hätten dabei sein sollen. Wir hatten eine tolle Kundgebung in der Stadthalle!“ antwortet Karl freudestrahlend. „Eine Kundgebung?“ „Ja, wir protestierten lautstark gegen die Ausbeutung der Kulis in Shanghai! Mit denen sind wir völlig solidarisch. Die sind alle unsere Brüder im Kampf um mehr Gerechtigkeit!“ Der Erzähler nickt beglückt und setzt dann hoffnungsfroh hinzu: „Dann werden Sie bestimmt heute Abend zu ihrem Nachbarn hinübergehen, ihm die Hand geben und ebenfalls Bruder zu ihm sagen!“ Da verfinstert sich Karls Gesicht: „Was zu diesem elenden Gauner soll ich gehen. Stellen sie sich vor, was der heute wieder angestellt hat! Aber gleich morgen mache ich den ordentlich zur Schnecke!“

Soweit nun diese kleine Geschichte. Trifft sie nicht unsere Situation? Warum fällt es uns so viel leichter, eine kleinere oder auch größere Summe für einen guten Zweck zu spenden als auf unsern konkreten Mitmenschen zuzugehen? Die Fernstenliebe kostet bloß Geld, vielleicht auch nur ein paar mündliche Beteuerungen. Aber selbst Hand anlegen, vielleicht gar seinen eigenen Lebensstil ändern, den ersten Schritt tun, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Eindrucksvoll verdeutlicht Fritz Riebold dieses Problem, wenn er schreibt:

„Sah in ein Fremdgesicht
voll Gram und Trauer –
und ging an ihm vorbei.
Am Straßenrand ein Kind,
weinend und hilflos,
ich nahm’s nicht bei der Hand.
In überfüllter Bahn
steh’n müde Frauen –
ich blieb auf meinem Platz.
Daheim beim Abendlicht
wollt‘ ich dann beten –
und fand zum Vater nicht.
Zu Christus ging mein Schrei.
Er sprach voll Trauer:
‚Du gingst an mir vorbei!'“

Woher soll ich die Kraft nehmen, mein Leben so radikal zu ändern? Im 1. Johannesbrief lesen wir die Antwort: „“Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Gottes Liebe will unser persönliches Leben verändern, die Beziehung zum Partner, zu den Kindern, zu Kollegen und Nachbarn. Vielleicht spüren wir das nicht immer, aber Gott will heute durch uns handeln.

Pfarrer Dr. Christian Fuchs, www.neustadt-aisch-evangelisch.de