Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 20

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Puppen

Von den Bohrlöchern, von dem Harry und vom Sieg über ihn wird in der Mansarde im vierten Stock nicht gesprochen. Dabei hätten sie der Mutter ja bekennen müssen, dass sie selbst schon vor Harrys Löchern gehockt, auf nackte Haut und gekräuselte Haare gelauert hatten.

Auch nicht besser als irgendein Dummerjan aus der Hilfsschule, hätten die Eltern gesagt. Aber sie sollen und wollen etwas Besonderes sein, gehen ja schließlich stolz mit der blauen Mütze zur Schule.

Auch die Sache mit dem Ei hätten sie der Mutter nicht in Worte packen können. An Sonntagen strecken sie der Hostie brav die Zunge entgegen. Zum Wohlgefallen der Eltern. Der Mutter wollen sie durch ihr Verschweigen eine tiefe Enttäuschung ersparen, sich selbst das finstere Donnerwetter des Vaters. Zur Beichte hätte er sie geschickt, ihnen die Kommunionbank verboten.

*

Das Wohnzimmer bietet den beiden Badheimkehrern kein gemütliches Bild. Sie müssen sich vorsichtig ihren Weg durch eine Kette von Kartonstapeln bahnen. Dabei rattert die alte SINGERNähmaschine so laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen kann. In einer kurzen Nähpause bekommen sie den Grund der Ungemütlichkeit erklärt. Heimarbeit.

Ihre geliebte Klappcouch mit dicken Schichten eines weißen, seidig glänzenden Stoffes beladen. Kartons voll nackter, krummbeiniger Puppenleiber. Arme und Beine kann man an Gummizügen aus dem Rumpf ziehen und wieder zurück schnellen lassen. Während sie den Bohrer-Harry vertrieben hatten, war die Dachwohnung zu einer Filiale der Puppenmanufaktur geworden. Nach dem Abendessen geht es nicht, wie üblich, noch einmal hinunter auf die Straße. Ehe sie es sich versehen, hat die Mama sie zu Heimarbeitern ernannt. Die auf links genähten Unterhöschen aus dem glänzenden Stoff müssen sie wenden und den Puppenkörpern anziehen.

Der Juniorchef steht plötzlich im Zimmer, entschuldigt sich für sein Eindringen. Sein Klopfen hatte die SINGER verschluckt.

Die Mutter ist froh, dass der frische Zwiebelgeruch schon verflogen war. Herr Pelikan begutachtet die Näharbeit, nimmt sich das eine oder andere angezogene Exemplar aus dem Karton, nickt kurz und verschwindet wieder im Geratter. In den kurzen Nähpausen dringt immer mal wieder der Cliquenpfiff von der Raststraße zu ihnen herauf. Die Versuchung, von der Arbeit zu desertieren, ist groß. Mit denen da unten den Tag zu besprechen, den Vollgummiball im Treiberles die frühabendliche Straße entlang zu jagen. Aber keiner will den enttäuschten Blick der Mutter auf sich ziehen. Erleichtert sind sie, dass nach dem Abendessen nicht mehr mit dem Besuch von Freunden zu rechnen ist.

Weiberpuppen die Unterhosen anzuziehen – das hätte ihnen mit Sicherheit Schimpf und Schande gebracht. Bei Wettbewerb und Leistung suchen sie Zuflucht. Die kleine Kuckucksuhr ohne Kuckuck ihr Zeitnehmer. Mit der Stückzahl eines Fünfzehn-Minuten-Rennens in getrennte Kartons versuchen sie den Widerwillen gegen ihre unmännliche Arbeit zu überwinden.

Am Wochenende klopft es an der Zimmertür. Der Juniorchef legt einen blauen Umschlag mit Mamas Wochenlohn auf die SINGER.

Ihre Mutter unterbricht die lärmende Näherei, grüßt den jungen Mann zurück, lässt den Umschlag aber ungeöffnet liegen. Er wirft einen kurzen Blick auf die Briefumschläge, die in einer Wasserschüssel aufweichen. Will wissen, ob die Jungen wohl Philatelisten seien, bemerkt ihre verlegenen Blicke und übersetzt das unverstandene Wort. Jakob zeigt ihm bereitwillig seinen Schatz, das Album mit schon einhundertzwanzig Briefmarken. Der Hausherr überfliegt die paar Markenreihen in ihren halb blinden Cellophanstraßen. Gönnerhaftes HmHm und Schönschön. Jakob wird für den Sonntagvormittag ins Büro eingeladen. Besichtigung der Alben des Herrn Pelikan.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

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