Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 12

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Sankt Heinrich und der Jesusknabe

Das mehrstöckige Eckhaus zur Bahnhofstraße gefällt ihm besonders. Es ist aus gelblichen, besonders vornehmen Ziegeln gebaut, hat breite, mit Blech überzogene Fenstersimse und hohe Doppelfenster. Wenn er da wohnen könnte, würde er sich als ein richtiger Coburger fühlen. Brauchte keinem zu erklären, dass er im Hinterhaus einer Spielzeugfabrik wohnt. Und dass sie nicht mal einen eigenen Klingelknopf haben. Dass man bei ihnen drei Mal läuten muss.

Schon unten an der Tür fällt ihm der immer spiegelblanke Messingrahmen mit den vielen Knöpfen auf. Der Treppenaufgang gebohnerte, rot der Läufer, das lackierte Geländer. Hier dürfen nur die echten Coburger wohnen, meint er.

Eine Ausnahme gibt es. Im ersten Stock wohnt die Ratajczak.

Die ist aus Oppeln.

Die ist so Anfang vierzig, riesengroß, wiegt viel, trägt eine rabenschwarze Perücke. Darunter kommen ihre dünnen, blondgrauen Haare hervor. Bekannten vertraut sie an, dass sie sich regelmäßig ihren Urin in die Kopfhaut einmassiert, hebt für besondere Vertrauenspersonen die Perücke ein wenig an, ermuntert sie, den leichten Fortschritt mit eigenen Fingern zu greifen.

Der Urin würde den Haarwuchs anregen, das Haar glänzen lassen, müsste allerdings über Nacht wirken. Allerdings habe sie damit bisher noch nicht den gewünschten Fortschritt erzielt.

Vielleicht liege es daran, dass sie sich ihren frischen, eigenen Urin eingerieben hatte. Von einer Kollegin, die auch in der Heißmangel arbeitet, habe sie erfahren, dass Heil-Urin mindestens drei Tage bei Zimmertemperatur ziehen und reifen müsse.

*

Jakob hat bei der Ratajczak jeden Sonntag eine feste Aufgabe zu 3erfüllen. Er bringt ihr das Heinrichsblatt, das sein Vater am kirchlichen Schriftenstand extra für sie kauft. Die geht nicht in die Kirche, will aber noch kirchliches Zeug lesen. Will irgendwie katholisch bleiben. Jakob weiß den Grund, weshalb sie sich in Gottesdiensten, Maiandachten, Rosenkranzandachten und bei Prozessionen nicht sehen lässt. Seine Eltern haben einmal etwas von wilder Ehe gesagt. Da gäbe es einen gewissen Franzl. Beim letzten Heinrichsblatt hatte er ihn auch gesehen, den Franzl. Wie er im langärmeligen Unterhemd dastand, sich breite Hosenträger über die Schultern streifte. Einen Schnurrbart hat der. Wie der Hitler auf dem Foto in einer Illustrierten. Und auch so eine Haarsträhne in der Stirn. Der Franzl hatte Jakob stumm angelä- chelt, dann die Tür des Schlafzimmers sanft zugedrückt. Die Ratajczak war von dem Tag an immer ganz besonders freundlich.

Hat er ihr das Heinrichsblatt in die Hand gedrückt, bekommt er regelmäßig ein großes Stück Streußelkuchen und eine hohe Tasse Kakao vorgesetzt. Dann kommt auch immer die Mutter von der Ratajczak aus einem anderen Zimmer, setzt sich dazu und lächelt ihn still an. Eine kleine, schneehaarige Frau, die immer nur dasitzt und ihn anschaut, an ihren ringlosen Fingergelenken knetet.

Muttl, kuck mal, wie er hibsch die Kuchenkrieml klaubt! Jakob hat bald herausgefunden, wie er die Ratajczak mit ihrer Mutter am meisten beeindrucken kann, spielt ihnen die brave Flasche vor, verschweigt seine wahren Begierden und Untaten.

Sagt nichts davon, dass er den Mädchen gerne auf Treppen unter die Röcke schielt, er schon Spatzen mit der Schleuder von der Dachrinne geschossen hat.

Muttl, kuck mal, was er für ein Scheitel hat. Und so hibsch gerade! Von der Ratajczak erfährt er auch, dass die Muttl gerne den Jesusknaben liest. Also bringt er ihr seinen Jesusknaben vom letzten Monat mit, löst aber alle noch nicht ausgefüllten Rätsel, will 3die fremde Schrift der alten Ratajczak nicht in seiner Jesusknaben-Sammelmappe haben.

Muttl, kuck mal, wie er hibsch mit geschlossenem Munde essen kann! * An einem Sonntagnachmittag hat er auf der Klappcouch einen Traum, der bei ihm alles verändert.

Die Ratajczak hat ihn in ihrer Wohnung eingesperrt. Sie will ihn adoptieren. Er flüchtet in einem dunklen Flur bis zum Ausgang.

Aber da steht die stumme Muttl, lacht laut und hält den Schlüssel hoch über ihren grauen Kopf. Er rennt ins Schlafzimmer.

Der Franzl steht wieder da. Kein Gesicht, nur ein Rücken mit Hosenträgern. Er hat für Jakob eine Rutschbahn gebaut. So eine, wie beim Plantschbecken im Hindenburgbad. Er steigt die Stufen hoch, setzt sich auf die Blechrutsche. Seine Raststraße liegt tief unter ihm. Ihm rauscht es in den Ohren. Er rutscht durch einen nachtschwarzen Tunnel. Die gewaltige Donnerstimme der Ratajczak ist ein Magnet. Der beginnt, ihn im Tunnel langsam zurück zu holen. Er klammert sich an die Blechwülste der Rutschbahn, stemmt sich mit den Ellenbogen gegen die Wände des Tunnels. Der Stimmenmagnet der Ratajczak ist stärker. Mit den Hinterkopfaugen spürt er, dass sie ihre fleischigen Arme schon nach ihm ausstreckt. Er füllt seine Lungen und stößt den Notschrei aller Kinder dieser Welt aus.

Sein qualgedehntes Mama fliegt aus dem Mund. Es sieht aus, wie die abgezwickte Kuppe eines Hufnagels, die gefürchtete Schleudermunition seines älteren Bruders. Trifft die Ratajczak in die Stirn und lässt ihre Magnetstimme verstummen.

Er wacht auf. Über ihm tickt die Kuckucksuhr mit den Tannenzapfengewichten. Er liegt auf der Klappcouch in der Wohnkü- che, ist dem Franzl dankbar für die Rutschbahn.

Er reibt sich die Augen. Auf der Wachstuchdecke vom Küchentisch liegt ein Zettel mit der krakeligen Mamaschrift.

Sie sind alle auf den Judenberg zum Geburtstagskaffee vom 4Opa gegangen. Er soll nachkommen, sein Geschenk nicht vergessen. Die Packung Porto Rico Krüllschnitt für Opas Jägerpfeife liegt auf dem Büfett hinter dem Käfig mit den beiden Erlenzeisigen.

Von da an steckt er das Heinrichsblatt nur noch in den Briefkastenschlitz. Seinen Jesusknaben leiht er nicht mehr aus. Den letzten vom Mai haben die ja noch, behalten ihn wahrscheinlich als Lockmittel.

*

Er solle doch mal wieder hoch kommen. Wegen dem Jesusknaben. Ein großes Stück Streußelkuchen würde auf ihn warten.

Die Ratajczak säuselt ihm vom Fenster auf die Raststraße herunter. Der Muttl gehe es nicht gut. Bettlägerig sei die geworden.

In diese Falle kann sie ihn nie wieder locken. Ein zweites Mal würde der Franzl bestimmt keine Raststraßenrutsche mehr bauen können. Ob der überhaupt noch am Leben ist? Vielleicht hatten die beiden Weiber ihn schon längst verschwinden lassen.

Gesehen hat er ihn jedenfalls noch nicht.

*

Beim Abendessen erzählt sein Vater, dass er erst heute den Franzl gesehen habe. Beim Tengelmann. Mit einer Schnittbohnendose im Einkaufsnetz.

Wenn Jakob mit Schultasche oder Einkaufsnetz am Haus der Ratajczak vorübergeht, dann verschwindet der Kopf mit der schwarzen Perücke und der weiße Kopf der Muttl. Nur noch die Kissen ragen über das Fensterbrett hinaus. Die werden schon wissen, warum sie ihre Köpfe verstecken. Von wegen bettlägerig geworden.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839