Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 2
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Der blasse Neunjährige steht vor der Lutherschule, hält Ausschau nach seinem Vater. Der hat, nachdem er aus den Kohlegruben der belgischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, bei den Vereinigten Coburger Sparkassen eine Stelle als Kontrolleur bekommen. Auf dem Gehaltsstreifen steht die Zahl Dreihundert. Sie leben im Flüchtlingslager der Lutherschule.
Mehrere Klassenzimmer sind mit provisorisch aufgehängten Wolldecken in enge Wohnabteile abgetrennt. Notdürftig Gewaschenes liegt zum Trocknen über den gusseisernen Heizkörpern.
Scharfer Pissegestank mischt sich mit dem Erbsensuppengeruch aus dem Kochkessel. Großeltern, Mütter und ältere Schwestern laufen mit Urineimern durch die Gänge, um sie im Jungenklo an die gekachelte Pinkelwand zu kippen. Wäscheleinen spannen sich von der Wandtafel über die Fenstergriffe zum Kartenständer.
Eine Frau hat sich ihren Bademantel als Zelt über den Kopf gezogen, will ihr Kind unbegafft stillen.
***
Vor der Schule die Steinsäule. Darauf der komische Mann aus grünlichem Eisen. Er hat keine Arme und keine Beine und blickt starr über Jakob hinweg. Vor dem hat er ein bisschen Angst, weiß aber nicht, warum.
Der Vater hätte längst zur Mittagspause zurück sein müssen. Da erspäht er ihn. Seine Pappledertasche hat er sich unter den Arm geklemmt. Linkisch zieht er einen leeren Handwagen. Jakob läuft ihm entgegen. Handwagen sind seine Sache. Der Vater ist erleichtert, das ratternde Ding los zu sein. Seinem Jüngsten kann er als Erstem die ersehnte Nachricht verkünden. Heute letzter Tag im Lager. Zwei Zimmer einer Hinterhauswohnung. Vierter Stock. Ab sofort zu beziehen.
Ab jetzt sind sie richtige Untermieter. Bei der pensionierten Gewerbeoberlehrerin Julie Rathke. Allerdings hat ihnen das Wohnungsamt diese zwei Zimmer nur zugesprochen, wenn sie den Opa und die Tante Helene aus dem Flüchtlingslager mitnehmen.
Mit acht Personen sollen sie sich diese vierzig Quadratmeter teilen.
***
Da ist nicht viel abzubauen im Massenlager. Bald stehen nur die olivfarbenen Feldbetten im Wohnabteil. Die Mutter geht noch schnell zur Lagerleitung. Um sich abzumelden und zu sagen, dass der eine Fleck auf dem Feldbett vom Pfefferminztee ist und nicht etwas Anderes. Der Opa und die Tante haben noch nicht fertig gepackt, sollen von den Jungen später mit dem Handwagen abgeholt werden. Den zieht Gunther jetzt mit seiner Mutter über das Ratterpflaster. Roland der Älteste schiebt und die zwei Jüngsten trippeln hinterher. Am Marktplatz weht ihnen aus einer kleinen Holzhütte blauer, verführerischer Bratwurstduft zu. Die Mutter erkundigt sich bei der Bratwurstfrau nach einer Raststraße.
In zehn Minuten wären sie da, meint die.
***
Für Jakob ist die Raststraße ein Ort, an dem sie eine Zeit lang rasten, sich ausruhen, dann aber wieder weg ziehen müssen. So ist das bisher immer gewesen. Aus Oppeln sind sie weg gegangen, haben ein Paar Jahre in Drahnsdorf gerastet. Jetzt sind sie in einer Raststraße angekommen, werden sich wieder eine Weile ausruhen. Und dann werden sie wieder weg ziehen. Da gibt es für ihn noch eine andere Menschensorte. Die können immer da bleiben, wo sie bleiben wollen. Die Drahnsdorfer oder die Coburger zum Beispiel.
***
Sie ziehen ihren Wagen über eine Steinbrücke. Der Jüngste stemmt sich hoch, um in den Fluss hinunter zu spucken. Beim Kiosk an dem anderen Ufer gehe es durch eine ganz kurze Gasse, hat die Frau gesagt. Dann nur noch die Bahnhofstraße überqueren und sie wären am Ziel.
Otto Pelikan Puppenfabrik.
Etwas ratlos stehen sie vor dem stattlichen Bürgerhaus. Aufgeklappte grüne Holzläden. Die Mutter geniert sich mit ihrem schäbigen Gepäck. Dann drückt sie die Klinke des eisernen Zauntors. Ein blank poliertes Klingelschild aus Messing. Stollberg, Buckan und A. Pelikan neben den drei Klingelknöpfen.
Die Tür lässt einen Schnarrton vernehmen, klackt dann eine Hand breit auf. Gedämpftes Licht dringt durch ein buntes Glasfenster in den gepflegten Treppenaufgang. Auf dem roten Kokosläufer ein älterer Herr in samtenen Hausschuhen. Unter der offenen Strickjacke eine dunkle Anzugweste. Eisgrau sein kurz geschnittener Haarkranz. Sie seien die Familie, die das Wohnungsamt zu ihm geschickt habe, sagt sie sanft, aber selbstbewusst.
Der Fabrikant verschwindet in der Wohnungstür, kommt mit angezogenen Schuhen und übergestreiftem Kittel heraus.
Sie winkt ihre vier Söhne von der Straße herein. Der Handwagen rollt im betonierten Hofgang bis zum grauen vierstöckigen Hinterhaus. Ihr Gepäck sollten sie ruhig erst einmal auf dem Wagen lassen, hier klaue ihnen niemand etwas. Neben der Tür drei Klingelschilder. Büro, Kornblum und J. Rathke. Der Hausbesitzer steigt auf den eisenüberkanteten Betontreppen voran.
Im zweiten Stock eine offene Tür. Der Jüngste linst kurz hinein.
Ein Saal, von vorne bis hinten voller Nähmaschinen. An ihnen viele Frauen, die an etwas nähen. Im Fenstersonnenstrahl die schwebenden Flusen der Stoffe. Jakob erspäht eine Näherin, deren schönes Gesicht ihn an die bezaubernde Christa aus Drahnsdorf in der Russenzone erinnert. Sie hört auf, ihr Pedal zu treten, schaut zur Tür. Er fühlt sich erkannt, zieht sich aus dem Türspalt zurück. Erst jetzt merkt er, dass alle mit dem Herrn Otto Pelikan schon höher gestiegen sind, hastet hinterher. In einem schmalen Korridor stehen alle und unterhalten sich mit Fräulein Julie Rathke. Von ihrer Drei-Zimmer-Wohnung muss sie zwei zur Untermiete abtreten. Fräulein Rathke mustert den Jakob mit freundlichen Augen. Ihr schneeweißes Haar hat einen strengen Herrenschnitt. Ein magerer, faltiger Hals ragt aus dem weißen Rüschenkragen ihres hochgeschlossenen Kleids. Der Fabrikbesitzer verabschiedet sich. Fräulein Rathke drückt die Klinke.
Ein Mansardenzimmer mit Couch, Samt überzogenem Ohrensessel, gedrechselten Stühlen und einem Ausziehtisch soll das neue Zuhause sein. An den Wänden wechseln sich aufgerollte Wellenlinien mit hellblauen Punkten ab. Ein Balken des Dachgerüsts steht – ebenso getüncht und mit den gleichen Wellenlinien und Punkten – mitten im Zimmer. Wasserringe an der Zimmerdecke.
Stockflecken. Im dunkelsten Teil des Dachzimmers ein braunes Bettgestell. Drei rot gestreifte Matratzen. Das zweiflügelige Fenster lässt den Blick von den Teerpappendächern eines Bretterlagers über Gemüsegärten bis hin zur Straße fliegen, die eine Bahnlinie begleitet. Fräulein Rathke hängt ihre vier Stiche mit Pferdeabbildungen vorsorglich ab. Trägt sie in das Zimmer, das ihr geblieben ist.
Sie kommt wieder herein, öffnet die Tür zur Dachraumküche und preist die Vorteile ihres Herds mit den vielen Eisenringen und das abdeckbare Wasserschaff. In der Ecke am Fenster eine winzige Holzkommode mit Schublade und Stauraum für den weißen Nachttopf. Ein mächtiger Spiegel, weiß gerahmt mit dünner Goldkante. Jakob weiß nicht mehr, wann er sich das letzte Mal in einem richtigen Spiegel gesehen hat, kann sich an seinem Gesicht gar nicht satt sehen.
***
Mit fünf Jahren hatte er einmal einen winzigen Taschenspiegel aus Mamas Handtasche geholt. Wegen irgendeiner Krankheit durfte er damals nicht hinunter in den Hof, musste sich bei den anderen Kindern mit dem kleinen Spiegel bemerkbar machen.
Nach der Flucht vor der Ostfront hat es auf dem Dorf Regenpfützen und einen Froschteich gegeben, in denen er sein Gesicht hatte sehen können. Im Wartezimmer des Zahnarztes in Golßen gab es zwar auch noch einen Spiegel, aber der war immer von 1 lauter Jacken und Mänteln verhängt. Auch hier in Coburg hat es im Massenlager einen Spiegel gegeben. Der hing leider im Frauenklo.
Und da hatte er nichts zu suchen. Dieser Spiegel hier bei Fräulein Rathke ist so silberhell. Er gehört ihm in diesem Augenblick ganz allein.
***
Inzwischen poltert es draußen auf der Holztreppe. Die beiden ältesten Brüder ächzen unter den Möbeln und Möbelteilen. Caritas.
Die schweren Eisenroste aus ineinander verhakten Spiralfedern rasten in die Metallbettgestelle ein. Durchgelegene, dunkelrote Matratzen und gestreifte Kopfkeile werden eingepasst.
***
Der Opa Gustav und Tante Helene auf ihren zwei Koffern vor der Schule. Vier Jahre Lutherschule haben sie jetzt hinter sich.
Den unvermeidlichen Hut – er setzt ihn nur zum Schlafen ab – hat er sich keck aus der Stirn nach oben geschoben. Ein Zeichen, dass er guter Dinge ist, endlich aus seinem Verschlag herauszukommen.
Wie ein altes Ehepaar wirken Vater und Tochter.
Er, der unverwüstliche Haudegen der kaiserlichen Kavallerie mit zwei geretteten Zähnen. Sie, das unscheinbare Mauerblümchen, früher einmal hellblond, vorzeitig vergraut.
Da kommen sie mit dem Handwagen um eine Häuserecke, seine Enkel Jakob und Andi. Er hat sie besonders ins Herz geschlossen, konnte er den Kleinen doch zum Entsetzen seiner frommen Tochter Helene derbe Worte, wie Arsch und Scheiße sagen.
Konnte ihnen auf seinem altersfleckigen Handrücken mit dem Mund prustend etwas vorfurzen. Packt mit seinen Achtzig beide Koffergriffe zugleich, lädt sie seinen Zugpferdchen auf den Wagen, schnalzt mit der Zunge. Bald holpert das Wägelchen über den Basalt des Marktplatzes durch Spitalgasse, Mohrenstraße bis zur Raststraße.
Da oben, im vierten Stock eines Hinterhauses wartet auf den schnaufenden Opa und seine Tochter eine Vorahnung von Behaglichkeit.
Von einem Wandnagel bis zu einem Haken im 1 Fensterstock ist eine Schnur gespannt worden. Darüber hängen schon einmal zwei graue Wolldecken, markieren Opas und Tante Helenes Schlafbereich. Knistern und Knacken der Holzscheite im Eisenöfchen. Hinter der Vorhangschnur zwei Metallbetten.
Der alte Mann treibt mit wenigen Hammerschlägen zwei Nägel in die Wand, hängt seinen Rosenkranz darüber. Im Wirrwarr von gestifteten Betten, Stühlen, Regalen nimmt er auf einem klotzbeinigen Hocker Platz, holt seine Jägerpfeife aus der Manteltasche, stopft sie gemächlich mit seinem Portorico-Krüll, schiebt sie zwischen seine beiden letzten Zähne. Selbstversunken beginnt er, sie kalt zu rauchen. Fast ist er wieder zu Hause.
Frau Kornblum aus der Nachbarwohnung schaut zum Begrüßen herein und leiht zugleich eine elektrische Kochplatte aus. Bald dampft eine Hühnersuppe mit winzigen Teigbuchstaben in den Tellern. Jakob und Andi fischen die Buchstaben aus der dünnen Suppe, gruppieren sie am Tellerrand zu COBURG und JAKOB.
Satt von der salzigen Brühe mit den eingebrockten Brotstücken sitzen die Brüder am Tisch, rülpsen die Luft ihres gierigen Löffelns wieder hervor, lauschen dem Zwiegespräch der Mutter mit der Nachbarin Ida Kornblum. Erfahrungen von Frau zu Frau mit Sparta-Creme tauschen sie aus. Frau Kornblums Problem mit ihrem stellenweisen Haarausfall. Das Übel habe sie erst nach diesem Feldpostbrief aus Königsberg gekriegt. Ihr Mann hatte darin geschrieben, dass er sich eine ganz junges Ding gesucht habe. Hedwig schüttelt entgeistert den Kopf. Im Türspalt ein scheues Mädchengesicht, mittelgescheitelt, lange dicke Blondzöpfe.
Traut sich nicht hinein. Frau Kornblum erzählt allen von ihrer Laura. In der ersten Klasse ist die, kann schon schreiben, wie gestochen.
Vater Herrmann kommt aus dem Dienst in der Sparkasse. Er hat den tristen Anfangszustand der Dachwohnung nicht mitbekommen, spürt nicht die erwartungsvollen Blicke seiner Familie, nimmt die kleine Gemütlichkeit ohne Anerkennung hin. Vielmehr glaubt er, etwas ganz Besonderes zur Einrichtung beisteuern zu können. Feierlich packt er ein gerahmtes und verglastes Bild der Marienerscheinung von Fatima aus, hängt es an einen der früheren Pferdebilderhaken.
Frau Kornblum verabschiedet sich. Sie ist evangelisch.
Raststraße
Roman in Episoden
Joachim Kortner
Paperback
244 Seiten
ISBN-13: 9783833489839
Verlag: Books on Demand
Erscheinungsdatum: 28.04.2008
Sprache: Deutsch
Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E‑Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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