Fortsetzungsroman: “Mamas rosa Schlüpfer” von Joachim Kortner, Teil 23

Mamas Rosa Schlüpfer

Mamas Rosa Schlüpfer

Der Sunke

Roland hatte einen Freund. Das war der Manfred Sunke. Den Sunke kannte er nicht von der Schienenarbeit her. Der Sunke hatte nämlich nur noch ein Bein, sein linkes. Er war sechzehn und stolz darauf, dass er schon an Frontkämpfen teilgenommen hatte.

„Ich hab ja noch Sauglück gehabt, dass ich halb hinterm Baum war.“

Immer, wenn er gefragt wurde, wie er sich das eingefangen habe, begann er zu erzählen. Sonst hätte ihm der Granatsplitter beide Beine abgerissen und dann könnte er ja überhaupt nicht mehr kriechen. Der Militärarzt sei damals im Lazarettzelt zu ihm an die Pritsche gekommen.

„Junge, wir müssen dir das Bein abnehmen. Sonst gehst du uns noch drauf.“

Wie ein Vater habe der ihn angeschaut.

***

Im Stehen legte der Sunke den Oberschenkelstumpf auf den Handgriff einer Krücke. Die Halbwüchsigen, die lässig um ihn herumstanden, hörten ihm zu.

„Wie ich nach der Narkose aufgewacht bin, da hat der Sani mein Bein an mir vorbeigetragen. Der dachte, dass ich noch total unter Chloro bin. Ich hab mein Bein genau erkannt. An dem roten Wintersocken mit dem grünen Rand. Ich wollte noch was sagen aber ich hab mein Maul einfach nicht aufgebracht. Den anderen Socken hab ích übrigens noch.“

***

Denen, die fünfzehn oder älter waren, hat er das immer wieder erzählt. Den Kleinen hat er das nicht erzählt, aber die haben es dann von den Älteren gehört. Der Sunke ist immer auf Krücken gegangen, unten mit wulstigen, dicken Gummidingern dran. Damit er nicht ausrutscht. Auch hat er immer einen Hut aufgehabt, obwohl er erst sechzehn war. Im Winter dann Hut mit weißem Stirnband aus Wolle darunter.
Keiner wusste, wie das gekommen war, aber auf einmal haben die Kinder ihm Humpel-Sunke nachgerufen. Das heißt, einer hat damit angefangen und die anderen haben dann mitgemacht. Da hat der Sunke ihnen eine von seinen Krücken nachgeschmissen. Die ist aber einen Hang runtergerutscht, den Hang an der Straße zur Eisenbahnüberführung.

Die Jungen hatten gestaunt, mit welcher Wucht die Krücke über ihre Köpfe hinwegfauchte. Nachdem sie aber gesehen hatten, dass niemand von ihnen getroffen worden war, lachten sie ihn noch mehr aus. Dann kümmerten sie sich um nichts mehr und gingen zurück ins Dorf. Als Mill sich umdrehte, war der Sunke nur noch ein kleiner Punkt.

Mill ging dann noch einmal heimlich zurück. Der Sunke lehnte sich gerade an einen Baum. Mit seiner einzigen Krücke stützte er sich noch von der Seite her ab, weil er eine Hand zum Lenken von seinem Schiffstrahl frei haben musste. Mill duckte sich und wartete, bis der Sunke wieder zugeknöpft hatte.

Dabei entdeckte er die Krücke am Hang. Aber das Gummistück unten fehlte.

Er warf dem Sunke die Krücke aus ein paar Metern Entfernung so zu, dass der sie fangen konnte. Sie redeten beide nichts. An seinen dreckverschmierten Sachen sah er, dass der Sunke schon versucht haben musste, an die Krücke zu kommen. Der Sunke hatte gesehen, dass Mill bei denen dabei war und dass er sich auch über ihn lustig gemacht hatte. Mill war froh, dass er jetzt nicht sagte:

„Das erzähl ich deinem ältesten Bruder, dass du auch bei denen dabei warst.“

Auch am nächsten Tag ging Mill nach der Schule noch einmal an den Hang. Er wollte unbedingt das Gummiding von der Krücke finden. Er wusste ja, dass er in den Augen der Großen ein Mamakind und eine Flasche war. Aber mit diesem Gummiding von der Krücke hoffte er auf Anerkennung bei den älteren Jungen. Wie gerne würde er für sie irgendwelche Dienste leisten, ihnen etwas holen oder so. Aber das Gummiding war wie vom Erdboden verschluckt.

***

Die Mutter von dem Sunke hat immer Kamillenblüten gesammelt. Die brauchte sie, um den Beinstumpf zu spülen. Der war immer noch entzündet. Hat ewig geeitert. Die Großen durften das ansehen, wie der weißgelbe Eiter dickflüssig und mit Blutresten herausgedrückt wurde. Sie stellten sich dann in einem Ring um den Sunke auf, weil die Kleinen nicht zuglotzen durften. Die hätten sowieso bloß Ih oder so was gesagt. Dann hat die Mutter vom Sunke eine ganze Rolle von Mullbinden in das größte Fleischloch gesteckt, das so schlecht zuheilen wollte. Der Sunke lag dabei immer auf einer Wolldecke und legte seinen Schenkelstumpf an die Kante von einem Küchenstuhl, den der Roland ins Freie geholt hatte. Gestöhnt hat er dabei nie. Für die Großen war er ein Held.

Sie waren aber alle froh, dass sie noch beide Beine hatten.

Die Chancen bei den Weibern – mit einem Holzbein schaut dich doch keine an. Höchstens vielleicht eine alte Frau, die dich dann halt aus Mitleid heiratet.

Aber diese Gedanken waren ihr tiefstes Geheimnis. Nicht einmal untereinander wurden sie ausgesprochen.

Mill merkte an Rolands Verhalten, dass der Sunke ihm wirklich nichts von der Humpel-Sunke-Sache erzählt hatte. Deswegen sammelte er auf einem Brachfeld Kamillenblüten. Er hielt ihm die Tüte mit der Kamille einfach stumm hin und wagte es nicht, ihm dabei in die Augen zu schauen.

Da hat der Sunke zu ihm gesagt:„Na, du Pfeife“.

Aber genommen hat er die Tüte und er hat sie in sein leeres Hosenbein gesteckt. Das war hochgerollt und mit einer großen Sicherheitsnadel festgemacht. Damit es sich nicht wieder aufrollt.