Bam­ber­ger Autorin Dag­mar Dusil ver­öf­fent­licht neu­en Roman

Dag­mar Dusil: von der Kunst, Geheim­nis­se aufzudecken.

Buch­be­spre­chung von Gert Weisskirchen

Dagmar Dusil

Dag­mar Dusil

Der Bam­ber­ger Schrift­stel­le­rin gelingt es, in ihrem jüngs­ten Roman, ‚Klein-Vene­dig´ zu einer Stadt zu machen, in der die Wahr­heit ent­deckt wird. Cla­ra, die Haupt­per­son, ist musi­ka­lisch hoch­be­gabt. Vor ihr könn­te eine Kar­rie­re als Pia­nis­tin lie­gen. Das aber will eine Dik­ta­tur ver­hin­dern. Die Macht­ha­ber set­zen per­fi­de Mit­tel ein. Die Autorin beschreibt ihre kaf­ka­es­ken Metho­den, die sie bis ins Inne­re von Fami­li­en bru­tal hand­ha­ben mit dem Ziel, Per­sön­lich­kei­ten zu zer­stö­ren. Nur, wer den Angrif­fen mit eige­nen Kräf­ten stand­hal­ten kann, hat Chan­cen, eige­ne Wege zu gehen. Cla­ra wählt den Weg. Sie spielt demons­tra­tiv nur noch auf einer papier­nen Tas­ta­tur Kla­vier und wird Ärz­tin. Sie ver­lässt Rumä­ni­en. Bam­berg und Vene­dig wer­den zu Städ­ten, in denen sie ent­schlüs­selt, was ihr wider­fah­ren ist. Sie wer­den zu Sehn­suchtsor­ten, zu Sta­tio­nen der Wahr­heits­fin­dung. Cla­ra nimmt die Lesen­den mit auf die­se Rei­se in das Inne­re ihres Lebens. Von den ers­ten Wor­ten an fes­selt Dag­mar Dusil, sie mit ihr in die Welt der Musik von Mozart bis Skrja­bin ein­zu­tau­chen. Die Kunst der Musik ist es schließ­lich, mit der die Wahr­heit siegt. Das zu ent­de­cken, das Erin­nern gegen­wär­tig wer­den zu las­sen, für eine mensch­li­che Zukunft: bei Dag­mar Dusil strahlt das Hel­le der Kunst über das Dunk­le der Gewalt.

Und wie­der und immer neu gelingt es, mit her­aus­ra­gen­dem Schrei­ben, den von lis­tig mei­nen­den Men­schen erfun­de­nen Mas­ke­ra­den hin­ter die Schli­che zu kom­men. Sie zu ent­de­cken, das Böse, das in sie ein­ge­spritzt wur­de, zu ent­lar­ven, das ist mit dem Roman ‚Das Geheim­nis der stum­men Klän­ge´ Dag­mar Dusil gelun­gen. Der Pop-Ver­lag, gegrün­det vom deutsch-rumä­ni­schen Lyri­ker Trai­an Pop, hat das Buch in der Leip­zi­ger Buch­mes­se im März 2024 prä­sen­tiert. In anschwel­len­de Töne klas­si­scher Musik webt die Autorin ihre Leser­schaft ein in sin­ken­de Sphä­ren der kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­tur der Ceau­ses­cu-Zeit. Geprägt waren ihre inne­ren Land­schaf­ten von auf­lo­dern­den Zer­würf­nis­sen, ange­zün­det durch will­fäh­ri­ge Hel­fer, die sich anstif­ten lie­ßen, Zwie­tracht zu säen bis in per­sön­li­che Bezie­hun­gen hin­ein. So soll­ten Abhän­gig­kei­ten ent­ste­hen, damit Men­schen ein­an­der wie Wöl­fe belau­ern. Fähig­kei­ten zu eman­zi­pa­to­ri­schem Auf­bruch soll­ten so im Keim erstickt wer­den. Auto­kra­ti­sche Kraft wur­de auf­ge­bracht, damit Krea­ti­vi­tät lahm­ge­legt wer­de, die hät­te ein­ge­setzt wer­den mögen, das Zusam­men­le­ben mensch­li­cher zu machen.

Cla­ra Gise­da Gre­go­ri­us träumt „hell und zukunfts­ori­en­tiert“, sie bin­det sich an „Zie­le … (,die) sie aber mög­li­cher­wei­se nie errei­chen“ könn­te. Mit die­ser Fan­fa­re wird in den ers­ten drei Sät­zen der Weg zur Grund­me­lo­die eines Lebens eröff­net. Der Leser wird auf 215 Sei­ten durch wach­sen­de Span­nun­gen hin­durch geführt, die bis zum Bers­ten gefüllt sind von Dis­so­nan­zen und sich schließ­lich in einem erlö­sen­den Cre­scen­do entladen.
In acht Kapi­teln ent­steht ein Kalei­do­skop ver­gan­ge­ner Erleb­nis­se im Lesen­den, das die Autorin in sein Mit­den­ken und Mit­füh­len ein­schreibt. Der Klang von Tönen mischt sich mit her­auf­ge­ru­fe­nen Bil­dern, die ein­an­der ergän­zen. Plas­tisch tre­ten sie her­vor in „der Imma­nenz der Erin­ne­rung“ (S.23), in die Cla­ra ein­ge­taucht ist. Im „lan­gen Atem der Erin­ne­rung“, dem ers­ten Kapi­tel, wird das Unge­heu­er­li­che offen­bar, das ihr Schick­sal aus­ma­chen wird. Eine ver­ord­ne­te Lüge raubt ihr einen von ihr aus­ge­wähl­ten Weg in eine selbst­be­stimm­te Zukunft: eine von der Secu­ri­ta­te gesteu­er­te Jury hat­te Cla­ras Sieg in einem musi­ka­li­schen Wett­be­werb in eine Nie­der­la­ge ver­kehrt. Sie ver­senk­te sich vor dem Publi­kum in sich selbst, hat­te ihre Gaben im Kla­vier­spiel ver­schenkt und „als der letz­te Ton ver­klun­gen war“, „fühl­te sie (sich) wie ein nack­ter her­aus­ge­schäl­ter Frucht­kern.“ (S. 31)

Im zwei­ten Kapi­tel wird ein ande­rer Mei­len­stein auf Cla­ras Lebens­weg beleuch­tet. Almuth Gre­go­ri­us hat­te – wie der Leser erst spä­ter lesen wird – Cla­ra adop­tiert. Das hat­te sie Cla­ra zu lan­ge vor­ent­hal­ten. Lavi­nia Van­du, ihre leib­li­che Mut­ter, war, als Vor­sit­zen­de der Jury, zum Mani­pu­la­ti­ons­in­stru­ment und ihre leib­li­che Toch­ter zum Opfer der Secu­ri­ta­te gewor­den. Sie hat­te ihre Toch­ter von sich gesto­ßen, „ihr See­len­le­ben glich einer geschlos­se­nen Muschel.“ (S.72) Wie Dämo­nen dran­gen Bruch­stü­cke des Erin­nerns in sie ein, „Frau­en mit Schot­ter­au­gen in ver­zerr­ten Gesich­tern. Teil­nahms­lo­se Bli­cke. Leer wie Kon­ser­ven­do­sen.“ (S.73) Sie woll­te ihr Kind nicht. Das in ihr her­an­wach­sen­des Leben war „das Frem­de“ in ihr, ein „Resul­tat des einen Augen­blicks der Selbst­ver­ges­sen­heit“, nicht wert, ihre Kar­rie­re als Pia­nis­tin zu zer­stö­ren. (S.78) Im Spiel der fort­schrei­ten­den Intri­gen lässt sich auch Cle­mens Hal­ler, begna­de­ter Pia­nist und eben­falls Jury­mit­glied, instru­men­ta­li­sie­ren. Ihm wird gedroht, phy­sisch ange­grif­fen zu wer­den und auch mate­ri­el­le Leis­tun­gen zu ent­zie­hen, wür­de er sich dem Wil­len der Secu­ri­ta­te nicht beu­gen. Schließ­lich gibt der Erpress­te nach. Bei einer gemein­sa­men Rei­se glei­tet die laten­te Zunei­gung zwi­schen Cla­ra und Cle­mens über in eine Lie­bes­be­zie­hung: „doch – jeder Anfang trägt das Ende in sich, das erst wahr­ge­nom­men wird, wenn Leben und Tod aus­tausch­bar wer­den. Wie hier in Vene­dig.“ (S.91) Das vier­te Kapi­tel schließt mit einem Moment der Wahr­heit, als Cle­mens Cla­ra offen­bart, sie habe im Wett­be­werb „ein­ma­lig und wun­der­bar“ Pia­no gespielt. Und: „noch nie hat­ten wir so eine Inter­pre­ta­ti­on zu hören bekom­men.“ (S. 108).

Im Fünf­ten Kapi­tel offen­bart Almuth ihre ange­nom­me­ne Mut­ter­rol­le gegen­über Cla­ra, ihrer ange­nom­me­nen Toch­ter. Wor­te, „die wie aus einem was­ser­lo­sen Brun­nen aus der Tie­fe an die Ober­flä­che drän­gen“, machen Almuth frei und stür­zen Cla­ra in einen Tau­mel: „ihre Iden­ti­tät beginnt zu wan­ken.“ (S. 132). Wie ein umge­kehr­ter Spie­gel ver­wan­del­te sich das Bild, das sich Cla­ra von Almuth bis zu die­sem Augen­blick gemacht hat­te. Der schwe­re Kern des Erin­nerns wird durch das Aus­spre­chen der Wahr­heit erkannt und für die, die sie aus­spricht, wird das ‚Haus der Erin­ne­rung´, plötz­lich leicht. Der Moment der Wahr­heit löst bei Almuth eine ‚erträg­li­che Leich­tig­keit des Seins´ aus und bei Cla­ra eine Meta­mor­pho­se. Hat­te sie doch nach dem ver­lo­re­nen Wett­be­werb ihren erhoff­ten Lebens­weg in die Kunst der Musik auf­ge­ge­ben und sich in eine erfolg­rei­che Medi­zi­ne­rin ver­wan­delt, die nur noch ‚auf dem Papier´ Pia­no spiel­te. Almuths Moment der Wahr­heit wur­de zu Cla­ras Moment ihrer wah­ren Bestim­mung. Leo, ihr leib­li­cher Vater, hat­te ihr sei­ne tie­fe Musi­ka­li­tät geschenkt und „sein unend­li­ches Ver­trau­en in ihr Talent.“ (S. 135) Was wirk­lich hät­te wer­den sol­len, war ver­bor­gen und war­te­te dar­auf, gebor­gen zu werden.

Dag­mar Dusil hat ihrem Roman ein Leit­mo­tiv vor­an­ge­stellt. Auf der Sei­te 5 zitiert sie Bal­ta­sar Gra­cián y Mora­les mit den Wor­ten: „Die Hoff­nung ist eine gro­ße Wahr­heits-Fäl­sche­rin … „. Ver­deut­licht die Autorin den Sinn die­ser Wor­te nicht mit der erwei­ter­ten Erkennt­nis, dass die Wahr­heit als eine gro­ße Hoff­nungs-Ermög­li­che­rin zu ver­ste­hen wäre?

In Bam­berg beginnt die Umkehr der Lügen zur wah­ren Bestim­mung. Hier, im frän­ki­schen Klein-Vene­dig kreu­zen sich die Wege von Cla­ra und Cle­mens. Hier betre­ten sie einen Weg, der das real Mög­li­che zu ver­hei­ßen ver­mag – von der Zunei­gung in die Lie­be. Das ent­de­cken­de Medi­um ist das musi­ka­li­sche Genie Mozarts: Hei­ter­keit und Schwer­mut vibrie­ren in den dra­ma­ti­schen Schwer­punk­ten und ver­ei­ni­gen sich leicht und lie­bens­wür­dig. Cle­mens Hal­ler bringt den „Engel der Musik“ im Kon­zert A‑Dur zum Klin­gen. (Sei­ten 85 bis 87) Cla­ras emp­fin­den für das Ande­re, das real mög­lich wer­den kann, wird durch Cle­mens per­for­ma­ti­ve Kunst neu ent­deckt: „Das Leben ist abge­wan­del­te Musik, ein stän­di­ges Ver­ge­hen.“ (S. 87) Ihre dar­an geknüpf­te Fra­ge „kann das, was war, wie­der kom­men?“, wird das Publi­kum im Lauf des Lesens nach über­ra­schen­den Auf­re­gun­gen selbst erkun­den. Weil Cle­mens „das Schwei­gen bricht, zer­brö­seln die Erin­ne­run­gen und fal­len acht­los zu Boden.“ Cla­ras Trä­nen haben sein Herz getrof­fen und aus ihm die Wahr­heit strö­men las­sen. In Bam­berg, dem Klein-Vene­dig beginnt der Weg zur Wahr­heit: Bam­berg als Flucht­punkt, wo sich Cla­ras Gegen­wart als Ärz­tin in der Wie­der­be­geg­nung mit einem zunächst ver­schüt­te­ten mög­li­chen Lebens­ent­wurf zur Kunst kreuzt. Mit dem Ent­de­cken der Wahr­heit offen­bart sich die wah­re Exis­tenz Cla­ras. Ihre Gaben lie­gen dar­in, ihren eige­nen Weg zu ihrem Selbst durch die Kunst zu suchen. Dar­in sind sich Cla­ra und Cle­mens kon­ge­ni­al: „Jeder ver­sucht, sei­ne Gedan­ken wie ein Blu­men­beet vom Unkraut zu befrei­en. Nur Blü­hen­des zu hin­ter­las­sen.“ (S. 108)

Die Leser­schaft führt Dag­mar Dusil von der Mit­te des Romans in sich beschleu­ni­gen­den Zeit­läuf­ten, die in ein auf­stei­gen­des Cre­scen­do mün­den. Den Raub ihrer künst­le­ri­schen Selbst­be­stim­mung kann Cla­ra am Ende in einen uner­hör­ten Gewinn ver­wan­deln. Wie ihr dies gelingt, ent­rät­selt die Leser­schaft bis zum Ende ihrer atem­be­rau­ben­den Lesereise.

Gert Weiss­kir­chen

Titelbild des Romans

Titel­bild des Romans © Pop Verlag

Dag­mar Dusil, „Das Geheim­nis der stum­men Klänge“

  • Roman. Rei­he Epik. Bd. 149, 220 Seiten
  • ISBN 978–3‑86356–394‑3; € [D] 21,00
  • Pop Ver­lag Ludwigsburg

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