Kulmbach: Interview mit Maria Reinhardt über das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
Seit der Einführung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Juni 2021 strebt der Gesetzgeber eine inklusive Jugendhilfe an, die gleichermaßen für alle Kinder und jungen Menschen mit und ohne Behinderung zuständig ist. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung sind die Verfahrenslotsen, die gemäß § 10b SGB VIII seit dem 1. Januar 2024 im Einsatz sind. Diese Verfahrenslotsen spielen eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung des Vorhabens, indem sie Kinder und junge Menschen mit einer Behinderung oder drohenden Behinderung sowie deren Familien über mögliche Leistungsangebote der Eingliederungshilfe beraten und deren Inanspruchnahme unterstützen. Maria Reinhardt ist die Verfahrenslotsin im Landkreis Kulmbach und begleitet seit Anfang 2024 Familien in diesem Prozess.
Welche Rolle spielen Verfahrenslotsen gemäß § 10b SGB VIII innerhalb des Systems der Jugendhilfe und Eingliederungshilfe?
Die Verfahrenslotsen sollen eine Art Bindeglied zwischen den beiden Systemen sein und deren Zusammenführung unterstützen. Aktuell werden die Eingliederungshilfen für körperlich, geistig und mehrfachbehinderte Kinder vom Bezirk Oberfranken geleistet, die Hilfen für Kinder mit seelischer Behinderung seitens der Jugendhilfe/ des Jugendamtes. Ab 2028 sollen alle Leistungen „aus einer Hand“ gewährt werden und unter dem Dach der Jugendhilfe stehen. Entsprechend bedarf es einer guten Vorbereitung und Planung.
Darüber hinaus sollen Verfahrenslotsen eine Anlaufstelle für Eltern oder junge Menschen mit Behinderung/drohender Behinderung sein, die über mögliche Leistungsansprüche beider Systeme berät – also knapp gefasst, zu der passenden Hilfe und dem zuständigen Leistungserbringer lotst.
Welche konkreten Aufgaben umfasst Ihre Tätigkeit als Verfahrenslotsin im Landkreis Kulmbach?
Als Verfahrenslotsin habe ich im Wesentlichen 2 Aufgaben:
Die eine Aufgabe ist es, den örtlichen Träger der Jugendhilfe bei dem oben genannten Transformationsprozess zu unterstützen, indem ich dem Jugendhilfeausschuss regelmäßig Bericht über beispielsweise meine Erfahrungen mit den einzelnen Leistungserbringern, deren Rückmeldung an Bedarfen und aktuelle Fallzahlen erstatte.
Die andere Aufgabe ist die Einzelfallberatung. Menschen einen Überblick im komplexen Leistungssystem der Eingliederungshilfe zu verschaffen, über Hilfs- und Unterstützungsangebote des SGB VIII und SGB IX zu beraten und auf die Inanspruchnahme bestehender Rechte hinzuwirken.
Dafür versuche ich mir zunächst ein großes Netzwerk zu schaffen und unsere Angebote im Landkreis genau zu kennen, um zielgenau beraten oder zum richtigen Ansprechpartner vermitteln zu können.
Wie unterstützen Sie Kinder und junge Menschen mit Behinderungen sowie deren Familien bei der Auswahl und Beantragung von Hilfs- und Unterstützungsangeboten?
Um klären zu können, welche Leistungen dem Kind / jungen Menschen der Familie zustehen bzw. was benötigt wird, brauche ich zunächst sehr viele Informationen. Also welche Behinderung liegt vor? Wie äußert sich diese im Alltag des Kindes/ des jungen Menschen? In welchem Lebensbereich ist die Teilhabe eingeschränkt? Wird bereits eine Leistung erbracht? Wird eine andere Leistung, eine andere Form der Unterstützung benötigt? Gibt es eine Pflegestufe? Ist ein Schwerbehindertenausweis vorhanden? Diese und weitere Fragen gilt es also erst einmal zu beantworten.
Anhand dieser Infos kann ich im zweiten Schritt erklären, welche Hilfen/Leistungen in Frage kommen und wo diese zu beantragen sind. Es sind dabei meinerseits auch Hilfestellungen möglich, wie bspw. den Kontakt zum Leistungserbringer herzustellen, die Antragsformulare mit auszufüllen oder einen Gesprächstermin zu begleiten und einiges mehr.
Über welche Hilfs- und Unterstützungsangebote sprechen wir dabei?
Es geht um alle Hilfen die die Teilhabe eines Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft ermöglichen. Also um Leistungen die im SGB VIII und SGB IX zur Verfügung stehen und Eingliederungshilfen genannt werden. Diese umfassen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die Teilhabe am Arbeitsleben, die Teilhabe an Bildung und die Leistungen zur Sozialen Teilhabe. Für jedes Lebensalter gibt es also unterschiedliche Unterstützungsmöglichkeiten/ Leistungsansprüche. Im Bereich Vorschule durch beispielsweise Frühförderung, einen integrativen Kindergartenplatz, den Besuch einer Schulvorbereitender Einrichtung oder einer Assistenzleistung.
Im Bereich Schule unter anderem durch die Unterstützung einer Schulbegleitung oder die Anbindung an eine Tagesstätte. Später im Bereich Beruf/ Wohnen, beispielsweise im Sinne von Betreuten Wohnformen, die Integration in den Arbeitsmarkt, Anbindung in einer Werkstatt.
Es geht aber auch um mögliche Heil- und Hilfsmittel, die benötigt werden, wie eine spezielle Brille oder eine Form der Sprachassistenz, aber auch um gewisse Therapieformen wie die Autismus spezifische Therapie, eine Lerntherapie. Ferner weise ich auch auf weitere Unterstützungsmöglichkeiten wie Pflegegeld, die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises oder Angebote von Elterngruppen oder dem Familienentlastende Dienste etc. hin.
An wen richtet sich Ihr Angebot als Verfahrenslotsin, und wie können Familien Ihre Unterstützung in Anspruch nehmen?
Das Angebot richtet sich an alle Kinder, Jugendliche & junge Volljährige (bis Vollendung des 26. Lebensjahres) mit einer bestehenden oder drohenden Behinderung, sowie an Eltern, Angehörige oder sonstige Erziehungs- & Personenberechtigte. Verfahrenslotsen beraten dabei neutral und unabhängig und werden auch nur auf Wunsch der Betroffenen tätig.
Familien oder junge Menschen können mich in der Regel von Montag bis Freitag in der Zeit von 08.30 Uhr bis 11.30 Uhr gut erreichen. Telefonisch unter der Telefonnummer 09221/ 707 216 oder gerne auch per Email unter reinhardt.maria@landkreis-kulmbach.de. Nach Absprache können vereinzelt auch Nachmittagstermine angeboten werden.
Welche Herausforderungen sehen Sie im Zusammenhang mit Ihrer Tätigkeit?
Zunächst muss sich die Stelle der Verfahrenslotsen unter dem Dach der Jugendhilfe/Jugendamt gut etablieren und ein stückweit die Hemmschwelle abgebaut werden. Bei vielen Menschen ist die Institution „Jugendamt“ erstmal negativ behaftet und wird auch nicht mit einer niederschwelligen Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung in Verbindung gebracht.
Weiter beraten die Verfahrenslotsen zwar über mögliche Leistungen, die endgültige Entscheidung ob eine Hilfe gewährt wird oder nicht, liegt dann aber bei dem zuständigen Leistungserbringer selbst, was gegebenenfalls einen strittigen Prozess nach sich ziehen und mit dem Einlegen von Widersprüchen einhergehen könnte. Hinzu kommt, dass manchmal auch klar ist, welche Hilfe/ Leistung nötig ist, jedoch das entsprechende Angebot im Landkreis fehlt oder lange Wartezeiten bestehen. Aktuell beispielsweise gibt es mehr Bedarf als Plätze im Bereich Schulvorbereitenden Einrichtungen mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung. Hier versuche ich Alternativen mit den Familien zu finden, was teilweise schwierig ist.
Auch stoßen wir aber auch einzelne Träger vermehrt auf die Problematik, dass ehrenamtliche Übersetzer benötigt werden, um beispielsweise Anträge mit Betroffenen überhaupt ausfüllen zu können.
Ferner gibt es auf politischer Ebene noch viel Klärungsbedarf, wie die Zusammenführung der beiden Systeme konkret umgesetzt werden soll.
Es fehlt hierzu bislang ein entsprechender Gesetzesentwurf und voraussichtlich wird es von den einzelnen Bundesländern auch unterschiedlich geregelt, da die Ausgangsvoraussetzungen in den einzelnen Ländern stark voneinander abweichen.
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