MdL Thomas Gehring (Bündnis 90/Die Grünen) besucht Coburg
Pressemitteilung von Bündnis 90/Die Grünen KV Coburg-Stadt:
Coburgs Geschichte ist reich an Glanz und Glorie: Auf das Erinnern an Victoria und Albert wurde und wird viel Wert gelegt in der Vestestadt. Doch greift diese Sichtweise nicht zu kurz? „Wir erben nicht nur die glanzvolle Seite der Geschichte – wir erben auch die andere!“, so fasste Gaby Schuller, die jahrelang im Arbeitskreis Lebendige Erinnerungskultur in Coburg mitgearbeitet hat, die Situation treffend zusammen. Die andere Seite des Erinnerns betrifft in Coburg die erst in den letzten Jahren langsam begonnene Aufarbeitung der NS-Zeit und dabei vor allem die Aufarbeitung der Schicksale der jüdischen Mitbürger*innen während der langen Zeit der Herrschaft der NSDAP. Anlässlich des Besuchs von MdL Thomas Gehring, zweiter Vizepräsident des bayerischen Landtags, fanden am 10. Januar zwei Veranstaltungen statt, die sich auf die Suche nach Zeugnissen von jüdischem Leben in Coburg machten und die Frage nach einer angemessenen Erinnerungskultur in das Zentrum der Debatte stellten. Unter Dr. Hubertus Habels fachkundiger Führung wurden zentrale Orte jüdischen Lebens und Leidens besucht. Die Führung begann am jüdischen Friedhof und führte über die Hohe Straße 30 und die Nikolauskapelle zu Marktplatz, Spitalgasse, Ilse Kohn-Platz zur Ecke Mohrenstraße / Löwenstraße. Zum Beispiel berichtete der Kulturwissenschaftler von der ehemaligen Prügelstube, in der jüdische Mitbürger*innen brutal misshandelt wurden. Auch das Schicksal von Abraham Friedmann, der ehemals das heutige Hotel Victoria besaß, dann aber in die Zahlungsunfähigkeit getrieben wurde und das Haus zu einem Spottpreis verkaufen musste und emigrierte, kam zur Sprache.
Auffällig war, dass im Stadtbild die Orte der Erinnerung an die Gräueltaten der NSDAP wenig prominent herausgestellt sind, womit sich die Frage nach einem geeigneten Umgang mit der Stadtgeschichte während des 2. Weltkriegs geradezu aufdrängte.
Dieser Frage widmete sich am gleichen Abend eine Gesprächsrunde, ausgerichtet von MdB Johannes Wagner im Wahlkreisbüro, das mit seiner Lage in der Judengasse der passende Ort für diese Veranstaltung war. Zu Gast waren neben Dr. Hubertus Habel und Thomas Gehring Franziska Bartl vom Arbeitskreis Lebendige Erinnerungskultur in Coburg, Gaby Schuller, die einen intensiven Kontakt mit Angehörigen überlebender Coburger Jüd*innen weltweit pflegt, und Wolfgang Braunschmidt, Redaktionsleiter der Neuen Presse Coburg. Angesichts der mittlerweile über 80 Jahre zurückliegenden Verbrechen an den jüdischen Mitbürger*innen würden eine Erinnerungskultur und Erinnerungsorte, „um den Opfern ein Gesicht zu geben“, so MdL Thomas Gehring, immer wichtiger. Er berichtete von seinen Erfahrungen im bayerischen Landtag, wo Parteimitglieder der AfD demonstrativ Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Nationalsozialismus stören und genau ausloten, was noch sagbar ist, um die Grenzen des Sagbaren zu verschieben.
Im Zuge eines vielerorts immer wieder aufflammenden Antisemitismus wurde von den Teilnehmenden nach einem sinnvollen Konzept für eine gelingende Erinnerungskultur gesucht. Wolfgang Braunschmidt, der einen persönlichen Bezug zu einem Juden, der in der Prügelstube misshandelt wurde, hatte, forderte eine stärkere Verpflichtung für die Schulen, den Holocaust und seine lokalen Ausprägungen zu thematisieren. Übereinstimmend mit Dr. Hubertus Habel sieht er auf kommunaler Ebene noch große Verständnisprobleme bei einzelnen Parteien. Dies zeige sich zum Beispiel an dem Wunsch einiger Nachfahren von deportierten oder emigrierten Coburger Jüd*innen nach einem zentral aufgestellten Mahnmal, das an die Schicksale ihrer Eltern, Großeltern und Verwandten erinnern soll. Dabei waren sich alle Anwesenden einig, dass eine gelungene Erinnerungskultur nicht oktroyiert sein darf, sondern die jüdische Geschichte anhand von Einzelschicksalen nachvollziehbar gemacht werden sollte, um eine Einfühlung zu ermöglichen. Neben der Thematisierung im Unterricht seien kreative Lösungen nötig, die vor allem auch den Jugendlichen das Thema auf geeignete Weise nahebringt. Allerdings könne man dann auch viel gewinnen: Einerseits kann es durch Recherche und sorgfältige Aufarbeitung von Quellen gelingen, Nachfahren von vertriebenen jüdischen Coburger*innen zu finden und ihnen Teile ihrer Familiengeschichte wiedergeben. Franziska Bartl vom Arbeitskreis Lebendige Erinnerungskultur schätzt an dieser Arbeit vor allem „die Perspektive, dass wir alle miteinander eine Zukunft haben.“ An die Stelle von Schuldzuweisungen könne so ein gefestiges demokratisches Verständnis treten, das aus der gemeinsamen, kritischen Erinnerung an diese undemokratische Zeit entstehe.
Dass der Weg dorthin noch weit ist, zeigt die oft noch mühsame Arbeit, Ausstellungen zu den Judenverfolgungen in Coburg auszurichten, etwa anlässlich des 80. Jahrestages der letzten Deportationszüge aus Coburg und Umgebung im Jahr 2022. Die vom Arbeitskreis in Eigenregie ausgearbeitete Ausstellung musste zunächst außerhalb Coburgs gezeigt werden, bis nach langem Drängen ein geeigneter Raum durch die Stadt zur Verfügung gestellt wurde. „Manche im Stadtrat halten Erinnerungskultur immer noch für lässlich!“, so Wolfgang Braunschmidt. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Einstellung bald ändert.
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