Aus der Gaustadter Leserpost: „Weihnacht 2022“

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Liebe Verwandte und Bekannte, liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren!

„Irgendwo im fremden Land ziehen wir durch Stein und Sand.

Hundert Mann und ein Befehl und ein Weg, den keiner will,
tagein, tagaus – wer weiß, wohin?
Verbranntes Land – und was ist der Sinn?

Wahllos schlägt das Schicksal zu: heute ich und morgen Du!
Ich hör’ von fern die Krähen schrei’n
im Morgenrot. Warum muss das sein?”

Es waren nicht hundert, es waren einige zehntausend Mann, die nur wenige Wochen nach dem letzten Weihnachtsfest den Weg in das ihnen vielleicht nicht fremde, aber jedenfalls nicht eigene Land antraten – auf Befehl eines Mannes, der zuvor noch im Weihnachtsgottesdienst mit der Kerze in der Hand vor den Fernsehkameras posiert hatte. Das Leid der von ihnen überfallenen Menschen steht außer Frage.
Gehen indes nicht Gedanken, wie sie im ausschnittsweise zitierten Liedtext (gesungen u. a. von Freddy Quinn) wiedergegeben sind, durch die Köpfe so mancher russischer Militärangehöriger? Hegen nicht auch viele von ihnen erhebliche Zweifel am Sinn eines Angriffskriegs, der den Invasoren ebenfalls große Opfer abverlangt – politisch, wirtschaftlich, materiell und vor allem an menschlichem Leid und verlorenen Leben?

Die in der Ukraine gebliebenen Menschen, die aus dem Land Geflohenen und die sie attackierenden Soldaten sind indes nicht die einzigen Opfer dieses Krieges. Als gäbe es nicht bereits viel zu viel Leid, Hunger und Not in der Welt, vielfach verursacht durch mit Waffengewalt ausgetragene Konflikte, menschengemachte Naturkatastrophen, missbräuchlich eingesetzte Wirtschaftsmacht sowie ungerechte Verteilung von Einkommen, Vermögen und Zugang zu Ressourcen, verschärfen die resultierenden Versorgungsprobleme die Lebenslage zahlreicher Menschen weltweit. Für viele mehr als zuvor geht es ums Überleben selbst, andere verspüren vorhandene Not noch drückender, stark steigende Preise lassen Menschen Armut erfahren, die bis vor wenigen Wochen eine gesicherte Existenz zu genießen glaubten.

Kein Geheimnis ist, dass Versäumnisse der Vergangenheit (nicht nur) für die Auswirkungen unterbrochener und gestörter Lieferketten (mit)verantwortlich sind: die verpasste, verpatzte, von interessierten Kreisen vielfach ausgebremste Energiewende, das Beharren auf abfall- und energieintensiven Produktionsverfahren und Konsumgewohnheiten, die ungebremste Versiegelung wertvoller landwirtschaftlich genutzter Flächen für Siedlungs-, Gewerbe- und Straßenbau, die viel zu starke Abhängigkeit von staatlich kontrollierten Lieferanten aus autokratisch geführten Diktaturen. Das fälschlich Lenin zugeschriebene Zitat, „die Kapitalisten werden uns aus lauter Profitgier noch den Strick verkaufen, an dem wir sie aufhängen”, findet hier, in der Formulierung an die heutigen Verhältnisse angepasst, inhaltlich seine Realisierung: Gewinnmaximierung um jeden Preis – ohne Berücksichtigung der sozialen und ökologischen Bedingungen in der Produktion, ohne Beachtung aus der Abhängigkeit erwachsender Erpressbarkeit – stand an erster Stelle. Diese Prämisse droht auch so manches Freihandelsabkommen zu dominieren, gefährdet heimische Arbeitsplätze und schreibt fragwürdige Rahmenbedingungen andernorts fest.

Dass eine solche Wirtschaftsweise langfristig auch ökonomisch zu teuer erkauft sein wird, ist lange bekannt. Spätestens die „Grenzen des Wachstums”, vor einem halben Jahrhundert veröffentlicht, hatten zur Folge: Die Beibehaltung des falschen Kurses geschah sehenden Auges. Die Herausgeber waren nicht etwa engagierte Umweltschützer/innen, Sozialromantiker/innen oder ideologisch Verblendete. Dem „Club of Rome” gehörten vielmehr zahlreiche renommierte Wirtschaftsaktive und Wissenschaftler/innen an. Ungeachtet dessen, waren zukunftsfähige Investitionen nicht gefragt.

Obgleich sich die Bundesrepublik Deutschland schon früh zur sozialen Marktwirtschaft bekannt hatte, wurde dieser Kurs spätestens nach dem Zusammenbruch der ost- und mitteleuropäischen Diktaturen endgültig verlassen. Nahezu zeitgleich, im Jahr 1992, forderte die Konferenz von Rio aber den Ausgleich zwischen wirtschaftlichen, sozialen sowie umwelt- und naturschutzbezogenen Anforderungen – ein bis heute nicht eingelöster Anspruch. Die biblischen Vorgaben, „Gott, der Herr, nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, auf dass er ihn bebaue und bewahre”, und „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!”, konnten sich nicht einmal im „christlichen Abendland”, unter „christlicher Leitkultur”, nachhaltig durchsetzen.

Krieg, Ungerechtigkeit, Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen – wo bleibt Raum für Hoffnung, für Optimismus, für positive Erwartungen an die Zukunft? Sogar die großen Religionen tun sich schwer, Halt zu geben. Denn fundamentalistische Strömungen in ihren Kreisen rechtfertigen, befürworten, unterstützen, fordern und „segnen” immer wieder Intoleranz und auch aggressive Gewalt – im Kleinen wie im Großen. John Lennon zog in seinem Lied „Imagine” die radikale Konsequenz:

„Imagine there’s no heaven!
… Nothing to kill or die for and no religion too.”
(Stell Dir vor, es gäbe kein Himmelreich!
… Nichts, wofür es sich zu töten oder sterben lohnt, und auch keine Religion.)

Ist das die Lösung? Das Lied nennt mehrere Konfliktursachen: die Existenz von Ländern, also Grenzen – gemeint ist wohl Fremdenfeindlichkeit; Besitz – genauer wäre, die von Gier verursachte, Hunger verursachende, stark ungleiche Verteilung zu benennen. Religion hingegen wurde und wird – zumindest von den verantwortlichen Drahtziehern – missbraucht, dient als Vorwand, machtpolitische, wirtschaftliche und finanzielle Interessen durchzusetzen.

Das Wirken Christi indessen ist von Toleranz geprägt: Er pflegt Umgang mit den verachteten Außenseitern der Gesellschaft, führt die, welche Unrecht begangen haben, auf den rechten Weg. Ob die Gespräche am Jakobsbrunnen in Samaria oder die Heilung des Knechts eines römischen Offiziers, gar die Darstellung eines Samariters als Vorbild an Barmherzigkeit – religiöse Differenzen waren für Jesus kein Anlass, Menschen auszugrenzen. Der Apostel Paulus, vom hartherzigen Christenverfolger zum tiefgläubigen Verkünder der Frohbotschaft bekehrt, bekannte, obgleich er die Vielgötterei verabscheute, auf dem Areopag in Athen seinen Respekt: „Nach allem, was ich sehe, seid Ihr sehr fromme Leute. Ich bin durch die Stadt gegangen und habe mir Eure heiligen Stätten angeschaut.”

„Imagine all the people living for today!”
(Stell dir vor, alle Menschen leben nur für das „HEUTE”!)

Ist das die erstrebenswerte Welt? Beschreibt diese Textstelle nicht eher die momentane Realität? Viele sind gezwungen, sich auf das „HEUTE” zu konzentrieren, um zu überleben, um die vielfältigen Sorgen des Alltags zu bewältigen. Viele andere aber, die es sich leisten könnten, über den Tag hinaus zu denken, leben dennoch, als gäbe es kein „Morgen”, für das Verantwortung zu übernehmen wäre – ein Morgen, das ein menschenwürdiges Dasein für alle möglich machte. „Bedenken second!”, nicht Risiken, sondern nur Chancen sehen – diese Sichtweise vieler aus Politik und Wirtschaft hat einen großen Teil der aktuellen Missstände verursacht.

„Wenn selbst ein Kind nicht mehr lacht wie ein Kind, dann sind wir jenseits von Eden.
Wenn wir nicht fühlen, die Erde sie weint wie kein and’rer Planet,
dann haben wir umsonst gelebt” (Drafi Deutscher, Nino de Angelo).

„Die Natur will, dass Kinder Kinder seien, ehe sie Erwachsene werden.” (Jean Jacques Rousseau)

Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, kam in Gestalt seines Sohnes, als kleines Kind, zu uns. Angefangen bei der Geburt im Stall über die Flucht nach Ägypten, verspürte Jesus von Beginn an die Unbilden irdischer Existenz, die Folgen willkürlicher Machtausübung am eigenen Leib. Warum haben wir in den seither vergangenen rund zweitausend Jahren so wenig dazugelernt? Rund um den Globus sind Menschen auf der Flucht vor Gewalt, Unterdrückung, Krieg, Hunger, Klimawandel, finden kein menschenwürdiges Obdach, sind dem Gutdünken örtlicher Machthaber und Behörden auf den Fluchtrouten und in den Zufluchtsländern ausgeliefert.

Doch es gibt Lichtblicke: Ob ehrenamtlich tätige Seenotretter zumindest einige hundert Menschenleben dem vieltausendfachen Sterben im Mittelmeer entreißen oder ob freiwillige Helfer Flüchtlingen wie auch heimischen Notleidenden bei Behördenanliegen sowie mit Essen, Getränken und Bekleidung unter die Arme greifen – wir finden überall Beispiele gelebter Nächstenliebe. Sie lassen hoffen.

„Du weißt um Tränen, Kreuz und Leid, du weißt, was Menschen beugt und biegt.
Doch Du besingst den, der befreit, weißt, dass das Leben letztlich siegt.
Mit Dir, Maria, singen wir von Gottes Heil in uns’rer Zeit.
Uns trägt die Hoffnung, die Du trugst – es kommt der Tag, der uns befreit.”

Wir wünschen ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen gelungenen Start in das neue Jahr 2023.

Familie
Felicitas, Rita und Wolfgang (Stadter-)Bönig