Ebensfeld: „Wenn normale Angst zur Störung wird“ – Interview mit Chefarzt Dr. Nedal Al-Khatib
Wer an den Sommer denkt, der verbindet mit dieser Jahreszeit zumeist nur die schönen Dinge des Lebens: Urlaubsfeeling und Schulferien zum Beispiel, entspannt bummeln gehen, ab ins Freibad und das Leben genießen und vieles mehr. Der Sommer 2022 unterscheidet sich jedoch stark von seinen Vorgängern. Den Krieg Russlands gegen die Ukraine hatte im letzten Jahr kaum einer im Kalkül, die Klimakrise und ihre Auswirkungen werden von Jahr zu Jahr greifbarer und die Hoffnungen, die Corona-Pandemie durch eine erfolgreiche Impfkampagne langfristig einzudämmen, scheiterten vorerst an der Mutationsfreudigkeit des Virus. Neben diesen großen Krisen, die sich uns tagtäglich in das Gehirn einbrennen und allgemeine Zukunftsängste hervorrufen können, gibt es natürlich im Leben eines jeden Menschen nicht minder wichtige Ereignisse, die Ängste auslösen können: Entscheidungen und neue Situationen, deren Ausgang und Tragweite man nicht abschätzen kann, der Verlust des Arbeitsplatzes oder des Lebenspartners, aber auch schwere Erkrankungen, Drogenkonsum oder natürlich ganz allgemein Schicksalsschläge können wie eine Last auf den Schultern des Betroffenen liegen und für Angst und Unsicherheit sorgen. Wir sprachen mit Dr. Nedal Al-Khatib, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirksklinikum Obermain, über das Phänomen der Angst und wie wir damit umgehen können.
Herr Dr. Al-Khatib, was ist Angst und wann geht die Angst mit uns durch und wird zur Erkrankung?
Al-Khatib: Angst ist grundsätzlich ein sehr normales, ein gesundes Gefühl. Angst hat eine Funktion. Sie bewahrt uns davor, dass wir uns in Gefahr begeben. Angst geht mit einem Fluchtreflex einher. Gesunde Emotionen, gesunde Impulse können allerdings auch überschießend sein. Ängste können sich auch verselbständigen. Wenn ich zum Beispiel in einem Dschungel Angst vor Giftschlangen habe, dann ist das sehr konkret und dann achte ich darauf. Wenn ich aber dann in einer Umgebung lebe, wo es diese Tiere nicht gibt, dann ist das eine Angst, die sich verselbständigt hat, die quasi mitgenommen wurde und kein konkretes Ziel mehr hat.
Wir sollten also offen mit unseren Ängsten umgehen?
Al-Khatib: In der Tat. Wir alle haben Ängste. Beispielsweise Ängste um unsere wirtschaftliche, aber auch physische Existenz oder Ängste, liebe Menschen zu verlieren. Das sind alles normale Ängste. Wenn allerdings bestimmte Ereignisse individuell oder im Kollektiv einer Gesellschaft auf uns einwirken, wie wir es auch bei der Corona-Pandemie erleben, dann kommen Urängste auf, die auch gesellschaftlich relevant werden. Am Anfang der Corona-Krise gab es zum Beispiel die irrationale, völlig unbegründete Angst, kein Toilettenpapier mehr zu haben.
Angst kann also lähmen, Angst kann aber auch aktivieren und beispielsweise Hamsterkäufe einleiten. Und Angst kann auch ansteckend sein.
Al-Khatib: So ist es. Wenn beobachtet wird, dass an sich grundlos Toilettenpapier und Lebensmittel gehortet werden, steigt in vielen Menschen die Angst vor einer Verknappung auf und die Frage, inwieweit man das selber auch machen muss. Dieses irrationale Nachahmeverhalten in der Corona-Krise ist bis auf den heutigen Tag zu beobachten. Davon abgesehen macht zum Beispiel die Corona-Pandemie als solche, aber auch der Krieg in der Ukraine uns allen mit Recht Angst – ein Krieg, der sehr nahe ist und bei dem wir alle nicht wissen, wie es weitergeht. Müssen fossile Energieträger rationiert werden? Gibt es eine Gaskrise im Winter? Das sind Fragestellungen, die von vielen als bedrohlich empfunden werden.
Leben wir in einer Zeit, in der wir besonders viele Angststörungen haben?
Al-Khatib: Das ist eine schwierige Frage, die sich nicht abschließend beantworten lässt. Was ich im Klinikalltag erlebe, sind bestimmte Auswirkungen, die bei Menschen Ängste schüren. Um die Pandemie einzudämmen, durften sich zum Beispiel Menschen nicht in größeren Gruppen treffen, was teilweise zu einer Vereinsamung geführt hat. Selbst als diese Einschränkungen weitgehend gelockert wurden, trafen sich Menschen vor lauter Angst nicht mehr. Was wir eher sehen, sind depressive Entwicklungen, bei denen diese verhältnismäßig diffusen Ängste zwar ganz selten einen konkreten Charakter haben, jedoch den Boden für eine Depression bereiten.
Können Angststörungen in einem gewissen Lebensalter gehäuft vorkommen?
Al-Khatib: Hier müssen wir unterscheiden. Panikstörungen beispielsweise sehen wir gehäuft von Mitte 20 bis Mitte 50. Die Lebensspanne also, in der Menschen ihren Berufseinstieg gefunden haben und die bis zu einem Alter dauert, bei dem der Mensch mittendrin im Berufsleben ist und die Belastungen als negativer Stress einwirken, der Mensch sich dadurch unter einem enormen Druck gesetzt fühlt. Diese Form der Angststörung geht also mit einem hohen Stresslevel einher.
Was empfehlen Sie Betroffenen?
Al-Khatib: Psychotherapien können Betroffenen helfen, sich kontinuierlich ihren Ängsten zu stellen und neue Lebensqualität zurückzuerlangen. Erster Ansprechpartner ist sicherlich der Hausarzt, der die weitere Behandlung einleiten wird. Sind Angststörungen mit Depressionen verbunden, hilft oft ein stationärer Aufenthalt. Reine Angststörungen können gut tagesklinisch in Kutzenberg, Coburg und Kronach behandelt werden, was den Westen Oberfrankens betrifft. Tagesklinisch bedeutet, tagsüber in ein klinisches Behandlungskonzept eingebunden zu sein. Am Abend, am Wochenende oder an Feiertagen ist der Patient zuhause. Ein identisches Angebot halten auch unser Schwesterkliniken der GeBO in Bayreuth und Rehau vor.
Was kann man präventiv tun, um die Entstehung von Angststörungen zu vermeiden?
Al-Khatib: Ein gesundes soziales Umfeld ist sehr wichtig, woran es natürlich in den Jahren der Corona-Krise aufgrund notwendiger Hygienevorschriften gemangelt hat. Regelmäßige kulturelle Aktivitäten, Bewegung und gesunde Ernährung, also das, was man im allgemeinen eine gesunde Lebensführung nennt. Die sogenannten Entspannungsverfahren spielen eine große Rolle, wie Progressive Muskelentspannung oder Autogenes Training – präventiv, aber auch therapeutisch. Diese Verfahren haben eine hohe Wirksamkeit. Betroffene können diese hilfreichen Methoden nach dem Erlernen in jeder Situation umsetzen.
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