Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 67
Romanepisoden von Joachim Kortner
Der Kulturfilm
Das ganze Zeug mit den Vererbungsgesetzen von Gregor Mendel haben sie nicht gelernt. Sie konnten sich einfach nicht hinter ihre Bücher klemmen und pauken, hatten eben erst entdeckt, dass die eigene Tante von den Nazis ermordet worden war.
Parentalgeneration, Mitose, Zytokinese, Gonosom, heterozyt und homozyt. Unverstanden, ungelernt, zusammenhanglos und chaotisch in ihren Köpfen. Wenn der Bio-Marpert heute mit dem kleinen Papierstapel das Klassenzimmer betritt, dann sind sie aufgeschmissen. Liniert mit Rand. In der letzten Stunde hat der schon so eine Andeutung gemacht hat.
Meine Herren, gebe Empfehlung, gut vorbereitet zu sein. Man ist ja schließlich Mensch.
Seine Kriegserlebnisse schätzen sie besonders.
Die Geschichte vom Lautsprecherwagen, aus dem das amerikanische “Do surrender!“ zu ihnen herüber schallte. Und dass sie sich trotzdem nicht ergeben hätten. Bis die letzte Patrone verschossen war. Und dann habe Widerstand ja keinen Sinn mehr gehabt. Auch solche Sachen aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft. Wie sie im Güterwagen ihren eigenen Urin getrunken haben. Weil der Amerikaner ihnen einen ganzen Tag lang nichts zu trinken gegeben habe. Sehr männlich und reif sind sie sich damals vorgekommen.
Weil keiner gegrinst oder gar gelacht hat. Und weil das irgendwie von Mann zu Mann war. Dabei hören sie ihm willig zu, mimen aufmerksame, verständnisvolle und bewundernde Zuhörergesichter. Heucheln mitfühlendes Interesse. Schinden Zeit heraus, um einer Extemporale zu entkommen. Atmen auf, wenn die ersten fünfzehn Minuten geschafft sind. Jetzt wird er es nicht mehr wagen, die von ihm erzeugte Andacht zu zerstören. Das gefürchtete liniertmit-Rand-Papier wird auf dem Pult liegen bleiben. Bis die Stundenglocke schrillt. Auch wird er den kleinen blauen Angstmacher, sein Notenbuch, bis zum Ende der Stunde in der linken Brusttasche des Jacketts stecken lassen.
*
Der Bio-Marpert kommt. Sein Jackett lässig über die Schulter geworfen. Dass die fünfte und sechste Stunde ausfalle, lässt er verlauten. Und er das Vergnügen habe, die Herrschaften zum Kulturfilmfassen zu begleiten. Marschziel Union Theater. Angesichts des Wochenendes solle das Marschgepäck gleich mitgenommen werden. Er bittet sich aus, den Bio-Raum nicht im Zustand eines Negerkraals zu hinterlassen.
Das Kreuzotterpräparat in der Glasvitrine, von Spiritus ausgelaugt, hat für Jakob plötzlich jeden Schauder, jeden Ekel verloren. Die Beklemmung einer Schulaufgabe mit null Punkten und der Bemerkung bodenlos – alles wie weggewischt.
Abmarsch in fünf Minuten. Sammeln auf dem Pausenhof. Durchzählen.
Der Bio-Marpert trottet nebenher, weiß auch nicht, ob das ein Farbfilm ist. Soll bloß ein Kurzfilm sein. Das letzte Mal gab es Finnland – Land der Wälder und Seen. Schwarzweiß-Film, zweimal gerissen. Dazwischen Licht an mit Gequatsche und Gelache.
Es wird garantiert etwas Belehrendes sein. Vielleicht ist heute der Robert Koch, der Röntgen, der Diesel oder die Madame Curie dran. Irgendwas in der Art. Hauptsache keine Ex, keine Schulaufgabe, kein Abfragen.
Im Sperrsitz entweder alles besetzt oder frei gehaltene Plätze. Die Oberprimaner waren schneller. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.
Im ersten Parkett hat sich der Bio-Marpert einen Außenplatz reserviert. Hat sein Jackett mit den ovalen Lederflicken an den Ellenbogen über die Lehne gelegt. Jetzt geht er im Seitengang auf und ab und macht Jagd auf Gummikauer. Kaugummi ist undeutsch.
Das Kinolicht verdämmert. Heute geht der Samtvorhang ohne den feierlichen Union Theater-Gong auf. Ernste Musik. Ein Orchester.
Lauter unbekannte Namen im Vorspann. Wie erwartet in Schwarz und Weiß. Doch dann freudiges Raunen. Farbe. Gras, Bäume in oktobrigen Tönen. In langsamer Kamerafahrt tauchen Betonpfähle auf. Rostiger Stacheldraht über weiße Porzellanisolatoren gespannt. Verwitterte Lampen.
Der Hitler, jetzt in Schwarzweiß, streckt seinen Kakenkreuzarm den Marschkolonnen entgegen. SS in gewienerten Stiefeln, den Deutschen Schäfer an der Leine. Plaudern am Bahnsteig. Schiebetüren der Reichsbahn krachen lautlos zu. Unkraut von heute wuchert vor dem rostbraunen Schienenstrang, ziegelrot die Reste des gesprengten Krematoriums.
Neben der düsteren Filmmusik ist die Stimme des Kommentators der einzige Ton. Voll von Bitterkeit, Hass und Trauer spricht er.
Handgeschmiedete Sinnsprüche am Eisenzaun. Arbeit macht frei. Jedem das Seine.
Die letzten Murmelstimmen der Gymnasiasten sind verstummt.
Aus seiner sonstigen Lümmelhaltung, die Knie gegen die Lehne des Vordersitzes gestemmt, hat Jakob sich aufgerichtet.
Ein stummes Orchester knochiger Häftlinge streicht die Geigen, spielt in schlottrigen Fetzen auf Befehl das Akkordeon. Die Heute-Kamera schwenkt in die Latrine. Massenscheißhaus. Finstere Kacklöcher in der Betonplatte. Der Galgen. Einer hat sie schon gefunden, seine Erlösung im Hochspannungszaun. Die Stimme des Sprechers formt die Worte zähneklappernde Angst.
Doktor SS, jetzt gefangen, lächelt verlegen in die Linse. Kastriert hat er, infiziert hat er. Ohne Betäubung hat er das Skalpell wüten lassen. Sein Arbeitstisch mit Blutrinne und Gulli. Abgeschnittene Köpfe schwimmen im Bottich. Tätowierte Hautstücke hat er sich präpariert, die Drecksau. Berge von Brillen, Zahnprothesen, Kinderköfferchen, Puppen, Frauenhaar. Im Beton der Gaskammer noch die Kratzspuren der Fingernägel. Fürs Familienleben dem Kommandanten ein schmuckes Häuschen mit Gardinen und Vorgarten. Aus dem privaten Album das Foto: Nettes Beisammensein der Täter in Uniform. Geburtstag, Beförderung. Oder gar Weihnachten? Jakob ist der Mund trocken geworden. Die Kaugummipackung mit erlösendem Spearmint, vorher noch hastig am Kiosk gekauft, steckt vergessen in der Hosentasche.
SS-Wachen, endlich entwaffnet. Auf dem Rücken müssen sie ihre ausgemergelten Opfer zum Grubenrand tragen. Aus dem Kameraden-Huckepack lassen sie die hautüberzogenen Skelette wie Abfall hinab kollern. Den aufgeschichteten Leichenmüll schiebt eine Planierraupe zur Massengrabkante. Unter grotesken Verrenkungen stürzt der Stapel der Ermordeten in die Grube.
Und wieder wandern Namen über die Leinwand. Vorzeitig schließt sich der Samtvorhang, will die Schrift in seinen Faltungen verschlucken. Das Kinolicht dämmert auf.
Schülermassen schieben sich den Ausgängen zu. Manche schütteln den Kopf. Man sieht sich nicht ins Gesicht. Der Bio-Marpert ist nicht mehr da. Jakobs Schultasche, unter den Vordersitz gerutscht, wird von fremden Füßen nach hinten durch geschoben. Sein Gesicht ist starr, Kiefer und Lippen verschraubt und verklebt. Hinter geschlossenem Vorhang spielt das Orchester noch immer aus den Kinolautsprechern, hilft allen, jetzt nichts sagen zu müssen.
Keine gewohnte Kino-aus-Dunkelheit. Grelles Tageslicht. Er heult, wischt sich die Salztropfen mit dem Handrücken weg. Wie schneeblind tappt er über die Stufen. Der Strom von stillen Schultaschenträgern wälzt sich, einem Stummfilm gleich, die riesige Freitreppe hinab, versickert in den Seitengassen.
Jetzt bloß niemanden treffen. Nicht einmal den Bruder. Der Stadtomnibus hupt ihn an. Er dreht sich um. Hinter der Burg hat sich ein Gewitter zusammengebraut.
Raststraße
Roman in Episoden von Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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