Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 66
Romanepisoden von Joachim Kortner
Der Reißenweber
Der ist was Besonderes, der Reißenweber. Allein schon, wie der aussieht. Von wegen Scheitel oder Amischnitt. Der kämmt sich das halblange Haar einfach glatt nach hinten. Im Gesicht ein richtiger Mann. Kantig, adlernasig. Der muss sich, so sagt er zumindest, zweimal am Tag rasieren. Jakob glaubt ihm das, denn sein Kinn ist zwar glatt, aber richtig blauschwarz. Da kann Jakob nicht mithalten. Er rasiert sich, damit der Bart schneller wächst. Das hat er von einem gehört, als er noch auf dem Ernestinum war. Auch ein richtiges Sakko trägt der Reißenweber.
Und natürlich Krawatten dazu. Die wechselt er täglich. Manchmal hat er solche alten Muster, wie sie Jakob von seinem Vater her kennt. Die Krawattenknoten alle selbst gebunden.
In einer Pausenhofecke wollte der Reißenweber ihm schon einmal den Unterschied zwischen Windsor-Knoten und Prince-Albert-Knoten demonstrieren und auch beibringen. Doch da war bei Jakob Hopfen und Malz verloren. Schon als Fünfzehnjähriger hatte er damals bei den Pfadfindern passen müssen, wenn es um Weber-, Schiffer- oder sonstige Knoten ging.
Was den Reißenweber von allen unterscheidet? Sein Führerschein und sein zerkratzter Volkswagen. Das macht ihn auch für die Studienräte fast zur Respektsperson. Außerdem leitet er in einem Ort außerhalb der Stadt einen Chor, organisiert sogar Bunte Abende. Richtig mit Eintrittskarte, Conferencier und gedrucktem Programm.
Wenn sich Jakob einhundert Mark verdienen wolle, brauchte er bloß drei amerikanische Lieder zu seiner Gitarre zu singen. Die Levis und das khakifarbene Armyhemd würden zu den Liedern am besten passen. Der Reißenweber werde ihn dazu persönlich mit seinem Volkswagen abholen und wieder heimfahren.
Der Gedanke, einen selbst verdienten Hundertmarkschein in der Hand zu halten – unvorstellbar. Sein bisher höchster Kontostand etwas über dreißig Mäuse. Der Lohmann-Fahrradhilfsmotor mit achtzehn Kubik für einhundertundzehn D-Mark jetzt in greifbarer Nähe.
*
Der Reißenweber hat Wort gehalten. Sein Käfer wartet schon unten. Sie fahren durch Unmengen von Schneematsch in die Nacht hinaus. Das Instrument liegt auf dem Rücksitz. Sein Bruder hat ihm das Schallloch der Wandergitarre mit wasserfestem Skriptol verziert. Das macht jetzt richtig was her. Zwei Schlagplättchen hat er dabei. Ein weiches aus Mamas Teigschaber.
Das harte hat er sich beim Kiederle in der Steingasse gekauft. Er wird es für Rock around the clock nehmen. Das weiche passt besser zu Singing the Blues. Bei Love me tender wird er die Akkorde auflösen und die Saiten mit den Fingern anzupfen. Vom Gitarrenband mit den braven Edelweißblüten hat er sein Instrument befreit. Das sieht ja sonst aus, wie eine Wandervogelklampfe. Ein Bein wird er auf einen Hocker stellen und so die Gitarre fest im Griff haben. Der Reißenweber fragt ihn noch nicht mal, welche Songs er sich ausgesucht hat. Da kann man halt sehen, dass er ein richtiger Mann ist. Einer, der nicht bei jeder unpassenden Gelegenheit quatschen muss.
*
Noch zwanzig Minuten bis zum Beginn. Der Saal ist fast voll.
Der Reißenweber trommelt noch einmal seinen gemischten Chor zusammen und verschwindet hinter einer Tür. Hektografierte Programme werden durch gereicht. Nach einer kurzen Halbzeitpause steht da: Unser Überraschungsgast Die beiden hohen Eisenöfen bullern auf Hochtouren, haben den winterkalten Saal überheizt. Jacketts hängen über den Stuhllehnen, Pullover werden über die Köpfe gezogen. Hinter dem roten Samtvorhang ist es erträglich. Hier stimmt Jakob noch einmal die Gitarre nach, setzt sich, klimpert im Stimmengewirr vor sich hin. Applaus. Die Stimme vom Reißenweber. Er freut sich über den übervollen Saal, heißt Bürgermeister, Pfarrer und Schulleiter willkommen. Der Chor nimmt hinter dem Vorhang Aufstellung. Jakob verzieht sich mit Gitarre und Stuhl in einen toten Blickwinkel. Am Brunnen vor dem Tore. Kein schöner Land in dieser Zeit. Beifall und Vorhang.
Der Reißenweber kündigt den Einschlag einer Humorgranate an. Einer erzählt Witze vom Fritzle, Klein Erna und Klein Heini, Tünnes und Schäl. Der Saal wiehert. Vorhang auf. Jetz gang i ans Brünnele vierstimmig. Vorhang. Mutter und Tochter mit ihren Künsten auf dem Rhönrad. Mit dem Geschwisterpaar Winfried und Elke hätten die Zauberkünstler Cagliostro und Houdini würdige Nachfolger bekommen, kündigt der Reißenweber die nächste Nummer an. Tischtennisbälle verschwinden, aus einem Frackärmel flattert eine weiße Taube, roter Wein wird zu Weißwein. Vorhang. Ein Volksliederpotpourri von Auf, du junger Wandersmann bis Zogen einst fünf wilde Schwäne.
Karli, das fünfjährige Wunderkind am Klavier. Ein kleiner Mozart von heute, lobt der Reißenweber. Die Mutter dreht ihm den Hocker hoch, blättert Noten. Eine kleine Nachtmusik perlt aus den Klaviertasten. Der Zwerg verbeugt sich. Der Saal kocht, brüllt Zugabe. Karli, das Wunderkind sitzt schon wieder in der ersten Reihe, weint und wird von der Mutter bearbeitet. Da springt der Reißenweber auf die Bühne. Er ist eine Autorität.
Mit ein paar beruhigenden Handbewegungen erzwingt er sich Stille, macht dem Publikum Komplimente und kündigt im gleichen Atemzug eine kurze Pause an. An der Rückwand des Tanzsaals hat jemand ein paar Fenster aufgestoßen. Reine Winterluft schwemmt den überheizten Mief hinaus. Neonröhren flackern auf, tauchen den Saal in kalkiges Licht. Die Reihen lichten sich, streben den Klos zu, drängen sich an der Biertheke.
Zwischen Chor, Witzen, Zauberkunststückchen, Rhönrad und Wunderkind haben ihn blanke Furcht und Selbstzweifel angefallen. Würden ihn die nicht auspfeifen, ausbuhen, Ruhe und Aufhören brüllen? Ist den vielen älteren Gästen das Geschrubbe seines Plektrums überhaupt zuzumuten?
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Bildfetzen dieser blöden Szene aus dem Freibad tauchen auf. Im vergangenen Sommer hatte er auf der Liegedecke, von verschiedenen jungen Leuten umsäumt, mit seinem Bruder ein paar fetzige Songs vom Stapel gelassen. Ein Mann war aus dem Schatten der großen Trauerweide auf ihn zu gekommen, hatte ihn auf die Schulter getippt. Sie sollten sich schämen, als Deutsche in der Sprache unserer Besatzer zu singen. Trotzig hatten sie weiter gemacht, bis der Mann seine sieben Sachen packte. Sein Bruder hatte danach zwar unter allgemeinem Gelächter Affenarsch und Schwabbelbacke gesagt, aber ihre Unbefangenheit hatten sie seit der Zeit verloren.
*
Bevor er sich in den Gedanken, einfach zu desertieren, verhaken kann, steht der Reißenweber neben ihm, fragt ihn, ob er ready sei. So eine selbstverständliche Sicherheit geht von dem aus, wie er sie nur von den Einheimischen kennt. Er werde ihn jetzt gleich ankündigen. Abwarten, bis der Vorhang aufgeht. Nach einem kurzen Interview könne er dann seine Rock’n Roll-Raketen abfeuern.
Der Reißenweber braucht nicht lange um Ruhe zu bitten. Ganz besonders freue er sich, dem Publikum den heutigen Überraschungsgast vorzustellen. Es sei der amerikanische Austauschschüler Gary Brown aus Dallas im Staate Texas.
Vorhang. Beifall brandet auf. Er trägt die Gitarre so, dass die schwarzen Zacken um das Schallloch gut zu sehen sind. Gleich wird der Reißenweber einen seiner trockenen Witze machen und dem Publikum sagen, dass er Jakob heißt und ein neuer Klassenkamerad ist. Er sagt nichts von alledem, sondern begrüßt ihn mit Hi, Gary. How are things?
Im Saal wird nur noch geflüstert.
I’m fine, thanks.
Unbeirrt fährt er in Englisch fort.
May I ask you for your favourite hobbies?
Well, guitar picking and Rock’n Roll, of course.
Er sieht es dem Gesicht vom Reißenweber an, dass der ihn den Leuten hier als echten Ami verkaufen will. Er fängt sogar an, zu dolmetschen. Sagt, er habe seinen Gast gerade gefragt, was er so in seiner Freizeit tue. Gitarre spielen und Rock’n Roll singen, übersetzt er dem Publikum.
Er steckt zu tief in der Falle. Schon beim ersten englischen Satz hätte er widersprechen müssen, muss jetzt besonders glaubwürdig sein, verfällt langsam in den breiten, gedehnten Südstaatenton, den er sich von Vince abgeguckt hat. Vince Mulligan, dem Lucky Strike-Kettenraucher mit den gelben Fingern, dem Mechaniker, der oben auf dem Flugplatz den Ami-Aufklärer wartet.
Auch muss er es so hin biegen, dass er nicht länger interviewt wird. Seine Angstfantasie hört schon empörte Zurufe wie Beschiss – Lüge – kein echter Ami.
Let’s start singing instead of talking so much.
Jakob hat dem übermächtigen Gastgeber die Kontrolle über die gefährliche Situation abgenommen. Der Reißenweber dolmetscht noch der Form halber ein wenig schwülstig. Seinen Überraschungsgast halte es nun nicht länger. Er wolle dem deutschen Publikum seine frisch aus den Vereinigten Staaten importierten musikalischen Gastgeschenke überreichen, drei original amerikanische Songs. Er gebe die Bühne frei für Gary Brown aus Dallas Texas.
Den Wirtshausstuhl hat sich Jakob aus der Vorhangecke hervor geholt und in die Bühnenmitte gestellt. Mit seiner Gitarre fühlt er sich unverwundbar. Das elastische Plättchen aus Mamas Teigschaber schlägt die Synkopen. Der Ärmel stoppt die schwingenden Saiten ab. Das gibt diesen unwiderstehlichen Rhythmus.
Well, I never felt more like singin‘ the Blues.
Er schleudert sein Vince-Mulligan-English in den dunklen Zuschauerschlund. Er will es denen beweisen, dass er Gitarre spielen, Rock’n Roll singen, ein echter Ami sein kann. Breite Aussprache, amerikanisch gerolltes R, ausgewaschene Levis und seine Basketballschuhe mit den Gummisohlen müssen jetzt zum Rettungsring werden. Beifall, unverständliche Zurufe, Bravo.
Der Reißenweber nimmt die Holztreppchen zur Bühne mit zwei Schritten, strahlt, klopft ihm die Schulter, ruft mit ausgestrecktem Arm seinen Ami-Namen ins Publikum.
Love me tender, love me sweet.
Sein Schlagplättchen verschwindet in der Jeanstasche. Jeder kennt die Schmusestimme von Elvis Presley. Er wird es jetzt klangvoll mit tiefem Bariton bringen. Auf die Stelle, wo es von C nach E7 übergeht, freut er sich besonders. Er wird sich dazu auf den Stuhl setzen. Das gähnende schwarze Loch des Zuschauerraums ist zu seinem Freund geworden. Die Menschen lauschen. Nach dem letzten Akkord trippeln zwei Teenager an die Bühne. Er soll ihnen ein Autogramm auf ihre Bierdeckel schreiben. Sie haben keinen Stift dabei. Ein Mann aus der ersten Reihe leiht den Kugelschreiber. Fast hätte er mit seinem richtigen Namen unterschrieben.
Rock around the clock. Der Befreiungsschlag. Danach wird er von dieser Bühne verschwinden, sich nie mehr hier sehen lassen. Die nächsten Darbietungen von Reißenwebers buntem Abend werden folgen. Die Leute werden sein Gesicht vergessen. Keiner wird ihm in der Spitalgasse auf die Schulter tippen und ihm sagen, dass er ihn vom Bunten Abend her kennt.
Er wischt sich die schweißnasse Hand an den Jeans trocken. Das harte Plektrum vom Kiederle darf ihm jetzt nicht beim Spielen aus den Fingern fallen.
One-two-three o’clock-four o’clock Rock.
Hinter der kehligen Stimme des Bill Haley will er sich verstecken. Knochentrocken und drahtig peitschen seine simplen drei Akkordgriffe in den ländlichen Saal. Er wirft die Arme in die Höhe, macht seine Verbeugung. Die Menschen hier sind aus dem Häuschen. Ganze Sitzreihen klatschen im Stehen. Jetzt nur noch den Rückzug antreten. Dem Reißenweber keine einzige Interviewfrage mehr beantworten. Er geht rückwärts, sich weiter ständig verbeugend. Der gnädige Vorhang. Er hört, wie der Reißenweber zum Publikum sagt, dass er glaube, ihnen nicht zu viel versprochen zu haben. Dann beginnt er noch, fast lehrerhaft, den besonderen Sinn des Schüleraustauschs hervorzuheben. Faselt von Versöhnung über den Gräbern und dass aus Feinden jetzt Freunde geworden seien. Auch vom Austausch zwischen den verschiedenen Kulturen redet er, den man ja gerade habe erleben können. Schnell leitet er dann zum nächsten Beitrag über, einer fünfzehnjährigen Virtuosin auf dem Akkordeon aus einem Nachbarort. Die habe schon diverse Preise gewonnen und werde nun den weltberühmten Tango Ole`Guapa zum Besten geben. Der Mittelspalt des Vorhangs öffnet sich.
Der Reißenweber kommt auf ihn zu. Noch ehe Jakob ihn mit Du Wahnsinniger anzischen kann, steckt in seiner Jeanstasche ein zur Röhre gerollter Hunderter. Jakob solle sich jetzt nicht künstlich aufregen, in der Küche könne er sich durchfressen bis zum Umfallen. Er verschwindet durch den Seitenausgang.
*
Mit der Gitarre kommt sich Jakob in der Küche seltsam vor.
Scheues Getuschel der Frauen in ihren Schürzenkleidern. Jetzt weiß er, dass er die Ami-Rolle bis zum Ende spielen muss. Das Tischchen in einer Küchenecke. Ein riesiges Brotzeitbrett. In der Kruste eines mehlstaubigen Bauernbrots stecken Papierfähnchen. Schwarz-Rot-Gold und das Sternenbanner. Bauernschinken von dunkelrot bis schwarz geräuchert, unvertilgbare Mengen verschiedener Wurstsorten. Sogar lappiges, wattiges Weißbrot. Bier und Coca Cola. Er hat wirklich an alles gedacht. Von Anfang an geplant und eingefädelt. Der Reißenweber ist ein Genie und ein abgebrühter Hund.
Im Türrahmen kichern ein paar Mädchen herum, schubsen sich abwechselnd in die Küche, flüchten wieder kreischend in den Gang hinaus. Die Köchin weist sie zurecht. Sie sollten sich gefälligst nicht so aufführen. Der Amerikaner würde ja weiß Gott was von den deutschen Mädchen denken müssen. Es kehrt allmählich Ruhe ein. Er isst und trinkt. Geschirr klappert. Gläser klirren. Das Spülwasser gurgelt sich im Abfluss weg. Von Zeit zu Zeit wendet ihm die Köchin ihr Gesicht zu, prüft mit fragendem Blick, ob ihm das Essen schmeckt. Er nickt, lächelt. Very good. Sie übersetzt es ihren Gehilfinnen, sagt ihnen, dass auch sie ein bisschen Englisch versteht. Außerdem habe der junge Ami lange Seiten und könne noch eine gehörige Portion vertragen. Die da drüben bekämen ja nichts als Konserven, Weißbrot und Ketchup auf den Teller. Das Akkordeonorchester oben im Saal lässt ein Wanderliederpotpourri erklingen und ist gerade bei Wohlauf, die Luft geht frisch und rein angelangt. Die Küche singt mit.
Are you ready to start?
In der Tür steht der Reißenweber. Seinen Wintermantel hat er schon an.
Don’t forget your jacket. Volkswagens are cold in winter.
Er werde schon mal den Wagen warm laufen lassen.
Jakob ruft der Köchin zu, dass es The best snack of my life! gewesen sei. Die steckt ihm noch ein pergamentenes Päckchen zu.
In Germany alles müssen aufessen, was auf Tisch kommt.
Sie blickt ihn mit ihrem schräg geneigtem Kopftuchgesicht an, nickt bekräftigend und sagt yesyesyes. Er kann ihr nicht in die Augen schauen, ekelt sich vor ihrem Vertrauen und vor der eigenen Betrügerei.
*
Draußen hämmert schon der Käfermotor. Der Reißenweber wischt die angelaufenen Scheiben klar. Ein echter Ami habe es nicht besser machen können, unterbricht er das Schweigen. Und außerdem wolle der Mensch betrogen werden.
Raststraße
Roman in Episoden von Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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