Aus der Gaustadter Leserpost: „Nachösterliche Betrachtungen“
Sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde, Bekannte und Verwandte!
Ostern, das höchste christliche Fest, symbolisiert Hoffnung, Freude und Zuversicht. Diese Gefühle zu empfinden, fällt in der aktuellen Situation schwer. Resignation ist indes keine Alternative, lähmt sie doch jegliche Handlungsfähigkeit.
Kommen Ihnen, kommen Euch diese einleitenden Worte bekannt vor? Mit exakt diesem Text begann unser Anschreiben zum Osterbrief vor zwei Jahren. Hintergrund war die damals auflaufende Corona-Pandemie gewesen, wenige Wochen zuvor waren die ersten spürbar einschränkenden Anordnungen in Kraft getreten.
COVID ist längst nicht überwunden. Wer aber hätte gedacht, daß eine – bislang nur bedingt gezähmte – weltweit grassierende Infektionskrankheit derart in den Hintergrund treten könnte? Zwar war rund um den Erdball durchgehend zu beobachten, daß Krieg, Unterdrückung und Landraub mitnichten der Vergangenheit angehören. Wir indes, inmitten Europas, hatten doch mit alldem nichts zu tun (Vorsicht: Ironie!).
Zum orthodoxen Weihnachtsfest noch hatte sich Wladimir Putin filmen lassen, als er den Gottesdienst besuchte. Eine Bibelstelle wurde dort offensichtlich nicht erwähnt: „Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und, wer sich selbst beherrscht, besser als einer, der Städte einnimmt“ (Sprüche 16,32). Wie sonst ist zu erklären, daß er anschließend, keine zwei Monate später, den Befehl erteilte, das Nachbarland in Schutt und Asche zu legen, zehntausende Menschen, darunter viele seiner eigenen Soldaten, in den Tod zu schicken, Millionen ins Elend zu stürzen? Daß er im eigenen Land jegliche Kritik unterdrückt, keinerlei Debatte zuläßt, belegt: Die von ihm vorgebrachten Rechtfertigungen, der angebliche Völkermord an russischstämmigen Ukrainern und die behauptete Ausrottung ihrer Kultur und Sprache, entbehren jeglicher Substanz. Wahr ist vielmehr: Er will in der direkten Nachbarschaft Rußlands keinen freiheitlich-demokratisch regierten Staat dulden. Zu groß ist seine Furcht, der Virus „Freiheit“ könnte überspringen, auch das russische Volk infizieren. Denn dann wären seine Pfründe und die seiner Genossen in Gefahr.
„Wir sagen Euch an Elend, Krieg, Terror, Leid“, hatten wir in unserem letzten Weihnachtsbrief geschrieben. „Wir sagen Euch an Furcht, Angst und die Flucht“, hieß es in einer der folgenden Strophen. „Seid aber Ihr zum Frieden bereit? Selbstsucht und Machtgier, Mammon – wohl kaum bleibt hier für Nächstenliebe noch Raum!“ lautete das ernüchternde Fazit.
Das umgetextete Adventslied war keineswegs prophetisch gedacht gewesen. Vielmehr sollte es der vorweihnachtlichen Idylle die in weiten Teilen der Erde gegebene Realität entgegenstellen. Auch wir haben nicht vorhergesehen, wie schnell diese sich bis in unsere nahezu unmittelbare Nachbarschaft ausdehnt. Jetzt aber konfrontieren uns die aktuellen Ereignisse direkt mit dem, was unzählige Menschen auf unserem Planeten tagtäglich erleben und durchleiden.
„Wir sagen Euch an viel Hoffnung und Trost. Jesus sei Dank, nicht nur Kälte und Frost herrschen auf Erden“, versuchten wir abschließend, Zuversicht zu wecken. Tatsächlich – diejenigen, die vor dem Terror der Invasionstruppen fliehen können, werden mit offenen Armen empfangen – selbst in den Ländern, die sich vor sieben Jahren noch verweigert hatten. „Schaut doch, sie strecken die Hände entgegen!“ Warum aber erst jetzt? Ob syrische oder ukrainische Kinder von russischen Bomben, Raketen und Granaten getötet, zerfetzt werden, kann und darf doch nicht unterschiedlich beurteilt werden. „So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, als Gottes Ebenbild schuf er sie …“ (1. Buch Moses – Genesis – 1-27) – „die Menschen“, nicht „die Europäer“ oder eine sonstige bevorzugte Gruppe, Nationalität oder Religion.
Wie kann die freie, die demokratisch regierte Welt über humanitäre Hilfe hinaus angemessen handeln? Welcher Christ, welche Christin weiß eine Antwort, die dem eigenen Glauben, den christlichen Grundwerten gerecht wird?
- Die Ukraine durch militärisches Eingreifen zu unterstützen, verdeutlichte dem Aggressor unmißverständlich, daß sein völkerrechtswidriger Angriffskrieg nicht hingenommen wird. Andererseits besteht die unbestreitbare Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation, die einen unter Umständen weltweiten, möglicherweise nuklearen Flächenbrand nach sich ziehen könnte.
- Der Ukraine mit umfangreichen Waffenlieferungen unter die Arme zu greifen, verlängert zweifellos den Krieg unter Inkaufnahme zahlreicher weiterer Opfer, kann aber seinen Verlauf, gar das Ende – ohne Garantie – zu Gunsten des angegriffenen Landes beeinflussen. Doch auch hier ist eine die Grenzen der Kriegsgegner überschreitende Eskalation nicht ausgeschlossen.
- Ein Waffenembargo führte wahrscheinlich zu einem baldigen Ende der Kämpfe. Der Aggressor siegte, umfangreiche „Säuberungen“ hätten für die zahlreichen Gegnerinnen und Gegner der Besatzungsmacht Verhaftung, Folter, Deportation und Ermordung zur Folge. Hunderttausende, eher Millionen Menschen versuchten, dem drohenden Leben im gefängnisgleichen Vasallenstaat durch Flucht zu entkommen. Durch den neuerlichen (!) Erfolg bestärkt, nähme der Angreifer nach einer „Erholungspause“ vielleicht die nächsten Ziele ins Visier – und auch andere mit vergleichbaren Absichten kämen auf den Gedanken, dem Beispiel zu folgen.
Welche dieser Varianten ist ethisch vertretbar? Das Gewissen droht ob der Alternativen zu zerreißen.
Über diesen Krieg vor unserer Haustür hinaus stellt sich die Frage, wie den zahlreichen weiteren Konflikten, die mit Waffengewalt ausgetragen werden, zu begegnen wäre. Die Antwort ist schon allein deshalb schwierig, weil die Ursachen, Anlässe und Vorwände unterschiedlichster Natur sind: nacktes Machtstreben (teils durch religiösen Fanatismus verschleiert), Kampf um begehrte, aber nur begrenzt verfügbare Ressourcen, wirtschaftliche Profitgier (nicht mit legitimem Gewinnstreben gleichzusetzen), Unterdrückung und Ausbeutung, Rache- und Revanchegelüste.
Zudem lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Staaten, die totalitär regiert werden: Eine mehr oder weniger große Gruppe herrscht, entscheidet, profitiert – die Mehrzahl der Beherrschten verfügt über keinerlei Einfluß, ihr Schicksal und Wohlergehen sind den Machthabern grundsätzlich gleichgültig. Gerechtigkeit ist kein Argument, welches diese Staatsführungen gelten lassen – ob im Inneren oder auf der diplomatischen Bühne. Umso mehr erstaunt, daß in manchen (einst) demokratisch regierten Ländern totalitär gesonnene Kräfte bei freien Wahlen stark an Einfluß, teils die Oberhand gewannen.
„Manchmal feiern wir mitten im Streit ein Fest der Auferstehung“, heißt es in einem bekannten Kirchenlied. In genau dieser Situation befinden wir uns gerade. Beginnend mit Ostern, der Erinnerung an die schmerzhafter Leidenszeit und qualvollem Tod folgende Auferstehung des Erlösers, begehen wir Christinnen und Christen unser höchstes Fest, welches bis Pfingsten, dem Tag der Aussendung, andauert. „Waffen werden umgeschmiedet und ein Friede ist da“, singen wir weiter. Wie aber kann das geschehen? Wie soll diese Vision Wirklichkeit werden?
Am Pfingsttag, so die Überlieferung, wurden die Jüngerinnen und Jünger vom Heiligen Geist erfüllt, damit sie die Heilsbotschaft in die Welt tragen und verkünden konnten. Nicht durch Gewalt – hier haben sich Kirchen und weltliche Herrscherinnen und Herrscher im Laufe der Jahrhunderte wiederholt schwer versündigt -, sondern allein durch die Kraft ihrer Worte und ihr gelebtes Beispiel sollten und wollten sie überzeugen und die Menschen für den Glauben gewinnen, getreu der Weisung, die ihnen Jesus mitgegeben hatte: „Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Johannes 13,35).
Wäre das nicht ein hervorragendes Vorbild auch für das staatliche Miteinander – Aufbau freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen, faire Handelsbeziehungen, Verzicht auf jegliches aggressive Säbelrasseln (für notwendige Vorbereitungen zur Landesverteidigung auch im Bündnis hat, wer es ehrlich meint, jederzeit Verständnis), Hilfe zur Selbsthilfe, Soforthilfe in Notlagen? Ist es nicht den Versuch wert, von den Vorzügen einer freiheitlichen Gesellschaft zu überzeugen, in der der Wohlstand allen zu Gute kommt und nicht der Reichtum auf Kosten der Mehrheit in nur wenigen Händen konzentriert wird? Schaffen nicht Verträge zu beider- bzw. allseitigem Nutzen mehr Vertrauen als Freihandelsabkommen, die internationalen Großkonzernen weitgehende Möglichkeiten einräumen, während sie soziale und ökologische Notwendigkeiten auszuhebeln drohen?
Ein wirklicher Friede ist ohne Freiheit nicht denkbar. Eine freiheitliche Gesellschaft aber kann nicht erzwungen werden, das widerspräche ihrem Wesen: „Man sperrt sie ein und augenblicklich ist sie weg … hinter Gitterstäben geht sie ein. Denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein“ (Georg Danzer). Freiheit kann nur durch das Beispiel wirken, das hat sie mit der christlichen Botschaft der Nächstenliebe gemein. Und beide sind auf ihre Glaubwürdigkeit angewiesen – die ist, das haben sie vielfach erfahren müssen, ein sehr zerbrechliches Gut.
Totalitäre Großmächte sichern ihren globalen Einfluß nicht zuletzt, indem sie lokalen bzw. regionalen Potentaten ihr Luxusleben ermöglichen und sie mit den erforderlichen Mitteln zur Unterdrückung jeglichen Widerstands ausstatten. Demokratisch eingestellte Regierungen hingegen fühlen sich immer wieder im Stich gelassen, wenn sie feststellen, daß die „freie Welt“ meist nur egoistisch ihre eigenen ökonomischen Interessen im Blick hat. Vertrauen ist so nicht aufzubauen, die Freiheit befindet sich vielerorts auf dem Rückzug bzw. ist schon verloren. Damit aber ist der Keim zur Gewalt gelegt.
Trotz der düsteren Gegenwart geben wir die Hoffnung nicht auf. Dem Leiden und Tod wird der Triumph des Lebens folgen. Indes dürfen wir selbstverständlich nicht abwiegelnd auf die Freuden des Paradieses im Jenseits verweisen, wie es in früheren Zeitaltern zwecks Rechtfertigung ungerechter Herrschaftstrukturen üblich gewesen war. Auch „der Herr wird’s schon richten“ verfehlt den Auftrag, den die Gläubigen zu erfüllen haben. Denn „mein Reich ist nicht von dieser Welt …“ (Johannes 18,36), stellt Jesus gegenüber Pontius Pilatus klar. „ICH HABE KEINE HÄNDE ALS EURE“ (Kruzifixbeschriftung in der Kirche St. Ludgeri, Münster). Wir selbst sind aufgefordert, sind berufen, im Rahmen des uns Möglichen paradiesische Zustände schon auf unserem Planeten anzustreben. Das neben der Liebe zu Gott höchste Gebot, „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ (3. Buch Moses – Leviticus – 19,18; Matthäus 22,39), gibt die Richttschnur vor.
Mit freundlichen Grüßen
Rita Stadter-Bönig, Wolfgang Bönig
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