Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 61

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Halleffekt

Im Quellekatalog haben Jakob und Andi ihren Traum gefunden. Ein Tonbandgerät. Damit könnten sie endlich ihre Gitarrenmusik aufnehmen. Stereo, drei Geschwindigkeiten und einen Halleffekt.

*

Die Klassenkameraden räkeln sich auf ihren Decken im Hindenburgbad, machen Köpfer und Arschbomben ins dunkle Chlorwasser, Handstand-Überschlag und Flickflack vor den Weibern.

Die Brüder stehen bei der Schrottverwertung im Kanonenweg vor dem Stahlschneider, schieben ihre Gabeln in die Metallbrocken und Schnitzel. Einsfünfundsechzig die Stunde.

Am Anfang wollten sie es noch den erfahrenen Schrottarbeitern zeigen. Ihre sechzehn-siebzehn Jahre alten Muskeln haben sie sich an Reck und Barren,an Ringen, Kletterstangen und beim Schwimmen geholt. Das Langsamlangsam der älteren Arbeiter schieben sie auf deren Faulheit und Schwäche.

Zwei Tage Schrottarbeit in der Augustsonne. Sie haben es gelernt. Hier kommt es nicht darauf an, wie viele Eisenteile du mit der Gabel auf den Anhänger bringst. Auch, wie braun du bist, interessiert hier kein Schwein. Hier sind alle braun. Der Rost macht alle gleich. Das Bürofenster ist ein Auge. Auf dem Scheißhaus muss es schnell gehen. Für das Scheißen werdet ihr hier nicht bezahlt. Mickeymaus und Prinz Eisenherz zum Arschabwischen. Den Rost unter den Nägeln kriegst du einfach nicht weg. Zwei Wochen haben sie durchgehalten. Mit Schrottschweiß verschmiert stehen sie vor dem Lohnbüro. Der Halleffekt ist noch nicht erreicht. Andi schraffiert am Tonbandgerät im Katalog, wie viel ihnen davon schon gehört.

*

Sie wären ja schön blöd, so zu malochen, hat ihnen einer gesagt.

Ziegelei Esbach, da gibt es einen klugen Job. Sie müssten nur schauen, dass sie in die Tongrube kommen. Den ganzen Tag an der frischen Luft. Ab und zu komme die Schmalspurbahn mit ein paar Wagons angedieselt. Das Beladen besorge sowieso der Bagger. Hin und wieder müsse man die dünne Kalkschicht in der Lehmwand heraus pickeln. Manchmal die Schiene frei schaufeln und Ziegelreste unter lockere Gleise stopfen. Ansonsten könnten sie den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

*

Es ist genau so, wie der gesagt hat. Sie sind mit dem Fahrrad hinaus gefahren. Anmeldung im Büro. Auf den Schwellen der Schmalspurschiene hinüber zur Lehmgrube. In der Baracke die Pickel schultern. Bald stehen sie an der Lehmwand, die der Bagger in das Ackerland geschrägt hat. Zwischen verschiedenen Brauntönen nur handbreit die graugelbe Kalkschicht. Sie heben die Pickel, wollen ihr zu Leibe rücken, ihr den Garaus machen.

Der Baggerführer auf dem schlafenden Riesen winkt ab. Sie setzen sich an einen Grundwassertümpel. Vor ihren Lehmklümpchen schrecken Libellen auf, tauchen Frösche ab.

Ein grauer Kittel erscheint oben am Grubenrand. Die Zugmaschine sei verreckt. Sie würden im Werk auf dem Trockenboden gebraucht.

Pickel abliefern. Rückmarsch ins Ziegelwerk. Ein weißer Kittel wartet schon auf sie, weist sie ein. Es geht um frisch gepresste Dachziegel mit Lüftungslöchern. Das sei alles ganz einfach.

Sagt der weiße Kittel. Im ersten Stock am Materiallift warten, die Dinger auf gummibereifte Karren legen, im Dachboden durch die Pendeltür schieben, auf den Gerüsten zum Trocknen ablegen. Frohes Schaffen. Der weiße Kittel verschwindet hinter einer Bürotür.

Eine steile Metalltreppe. Jakob drückt die Klinke. Ein nie erlebter Hitzeschwall springt sie an, schließt ihnen den Mund. Tiefe Risse in den Balken, Latten und Bodenbrettern. Lehmstaub hat hier allem seine Farbe genommen. Die Augustsonne tastet sich an einer milchigen Staubsäule durch die aufgestellte Dachluke.

Eine Frau steht barfuß auf dem Bretterboden und kehrt riesige Wolken hoch. Der schweißnasse Unterrock klebt an ihr. Sie lallt ihnen Unverständliches entgegen, spricht mit den Händen, hebt den Rockrand über wellige Schenkel, wagt ein paar Tanzschritte, lacht die Brüder zahnlückig an.

Auf dem Materiallift schaukeln die ersten Lüftungsziegel nach oben. Frisch gepresst und gelocht, glänzen wie Speck. Acht Stück pro Karren. Im Laufschritt hin zum Brettersteg über einen schwindeltiefen Graben. Holzreste, Bierflaschen, Glassplitter.

Der Karren stößt die Pendeltür auf. Ein Ofenschlund zieht Jakob in sich hinein. In Sekunden klebt jedes Kleidungsstück an ihm.

Er hebt seine Presslinge auf die Roste. Da hinten an der Mauer das dunkle, vergitterte Riesenloch. Aus den Brennöfen wird diese Höllenluft, der Flammenatem herauf geblasen, will unbedingt in seine Lungen und Augen dringen, sie ausdörren. Rückweg.

Unter den Turnschuhen wallt der Tonstaub zu farblosen Mehlwolken hoch. Im Vergleich zum Höllenschlund umfächelt ihn die Bruthitze des Vorraums wie Frühlingshauch. Der Bruder hastet mit voller Karre, stößt die Pendeltür auf, kommt kurz darauf wie mit Wasser übergossen zurück. Sie zerren sich ihr klatschnasses Zeug vom Leib, hängen alles über einen Querbalken. Ab jetzt in Unterhose und barfuß. Im Laufschritt schieben sie ihre Karren, triefen, wischen den Brennschweiß aus den Augen. Immer öfter schaukelt der Lift ungeleert hinunter in das Himmelreich der Kühle.

Im Türspalt ein quadratischer Kopf. Das Schiefmaul bellt sie an.

Wenn sie es nicht schaffen, können sie ja gleich ihre Papiere holen. Die Oberschüler hätten sowieso keinen Mumm in den Knochen und nur Scheiße im Kopf.

Ohnmächtiger Hass, finstere Rachepläne kochen in Jakob. Eine Stunde vor Betriebsschluss bleibt der Lift stehen. Keiner kommt herauf und sagt ihnen, was zu tun ist. Die Taubstumme ist auch nicht mehr da. Sie schieben ihre Karren unter die hochgestellte Dachluke, sitzen auf den Wagenkanten und kühlen sich im Strahl der Augustsonne. Die Werkssirene. Klamotten und Schuhe sind durch getrocknet. Abstieg ins Paradies der Frische. Die Hallen sind leer. Die Bänder schweigen. Ihre Fahrräder unter dem Wellblechdach fühlen sich kühl an. Schweißränder an Hemd und Hose wie Landesgrenzen im Atlas.

*

Für den zweiten Tag Hölle hat Jakob Mamas Badethermometer mit dem roten Streifen und der grünen Skala dabei. Keinen Mumm in den Knochen und sowieso bloß Scheiße im Kopf, hat das Quadratgesicht, diese Arschgeige über sie gesagt. Der wird sich noch wundern. Andi, dem Besonnenen, sagt er nichts von seinem Plan. Er will davon nicht abgebracht werden. Und seien die Bedenken auch noch so vernünftig. Er will wieder im Freien arbeiten.

Die Taubstumme ist vor ihnen da, kehrt schon wieder Wolken.

Barfuß im Unterrock. Kaum stehen sie halbnackt im Lehmstaub, schaukelt der Materiallift zu ihnen hinauf. Bei der ersten Fuhre soll das Thermometer mit in die Hölle gehen. Er legt es in das Trocknungsgerüst. Es soll sein Zeuge sein. Bei der nächsten Fuhre hält er die Skala unter die Deckenfunzel. Sechsundfünfzig Grad. Am Steg zischt er dem Bruder diese Zahl zu. Als der dann die Pendeltür schweißglänzend von innen wieder aufstößt, ist Jakob gerade dabei, seinen Plan auszuführen. Zwei der Querbretter des Stegs hat er schon mit Leichtigkeit aus den gedörrten Balken gerissen, sie an die Mauer gelehnt und mit einem Fersentritt zersplittern lassen. Gemeinsam heben sie die leere Transportkarre des Bruders über die gefährliche Stelle. Die Bretterteile klappern in den Abgrund. Seine beladene Karre lässt Jakob unter den fassungslosen Augen des Bruders in die Tiefe krachen. Der Materiallift kehrt voll zu dem Quadratgesicht nach unten zurück. Schon geifert seine Stimme durch den Türspalt.

Noch bevor er mit gehässigen Sprüchen über Mumm in den Knochen, Scheiße im Kopf und Papiere holen anfangen kann, brüllt Jakob ihn an. Er solle sich die lebensgefährliche Sauerei hier oben gefälligst persönlich ansehen. Das Quadratgesicht begutachtet den Steg und schüttelt den Kopf. Wer denn für so eine Schweinerei hier die Verantwortung trägt, will Jakob noch wissen. Achselzucken. Auf dem Rücken des grauen Kittels ist ein großer Schweißfleck zu sehen. Sie sollten erst einmal mitkommen, knurrt er. Die Taubstumme kehrt Staubwolken.

*

Draußen auf dem Hof. Sommerhimmel mit weißen Wolkenbergen. Ein Windhauch lässt kleine Wirbel aus rotem Ziegelstaub über den Platz tanzen. Sie sollen sich beim Lademeister melden.

Der verpasst ihnen die Ladegummis. Daumen und Finger unter einen Doppelschlitz stecken. Der Ziegeleilaster steht mit Anhänger an den mannshohen Stapeln der Dachpfannen. Zwei alte Hasen auf der Ladefläche, die Brüder unten. Im Takt hat das zu gehen. Zweitausendfünfhundert Stück. Noch heute muss die Scheiße an die Baustellen raus.

Zwei Stück greifen – übergeben. Zwei Stück greifen – übergeben. Zwei Stück greifen – übergeben. Längsreihe ist voll. Einer auf der Ladefläche streut Stroh darüber. Halbe Minute anlehnen.

Anfangs zählt Jakob noch seine Stückzahl mit. Bald gibt er es auf. Das will kein Ende nehmen. Nur noch mechanisch. Greifen – übergeben. Sehnsucht nach der Strohstreupause. Und weiter.

Der leere Anhänger. Das Gleiche von vorn. Greifen – übergeben. Greifen – übergeben. Strohschicht. Die Handgriffe sitzen.

Die alten Knacker da oben – wie halten die das bloß durch? Sich nur nichts anmerken lassen. Drei Reihen noch.

*

Respekt, sagt einer der alten Hasen. Der andere klopft den Brüdern zwei Overstolz aus der Packung. Ein starkes Kraut ohne Filter. Sie paffen mit. Hocken, von Ziegelstaub verschmiert, auf dicken Betonröhren, schweigen sich an, sehen dem Lastzug hinterher. Fix und fertig. Aber stolz. Heute sind sie ein bisschen so etwas wie Arbeiter geworden.

*

Den Bestellschein für ihren Halleffekt hat Andi schon ausgefüllt. Noch zwei Wochen Maloche und dann ab in den Briefkasten. Die Mutter kann sich nicht erklären, wo ihr Badethermometer hin gekommen sein könnte.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839