„Wie wir in Bamberg zusammenleben wollen“ – ein Gastbeitrag von Clemens Renker
Oder steht Bamberg vor seinem Kipppunkt?
Bamberg ist nach dem aktuellen deutschen StädteRanking des Instituts der Deutschen Wirtschaft auf einen nicht einmal mehr erwähnenswerten Platz abgestürzt. Das Ranking bewertet mit zahlreichen Kriterien in den drei Erfolgstreibern „Niveau“ (Arbeitsplätze, Steuern, Lebensqualität, Immobilien, Kultur und Bildung etc.), „Nachhaltigkeit“ (Umwelt, Natur, Ressourcen etc.) und „Dynamik“ (Zukunftsfähigkeit der Arbeitsplätze, familienfreundliche und dynamische Bevölkerungsentwicklung, Offenheit, Innovationen) deutsche Städte. Die beste Entwicklung findet im Süden unserer Region statt. Erlangen ist inzwischen auf Platz zwei in Deutschland hinter München aufgestiegen.
Nun hilft es dennoch nicht, zu klagen und zu jammern, sich anzupassen oder wegzuschauen. Bamberg hat ein außerordentliches historisches Fundament, immer noch eine einzigartig sich Bamberg verpflichtet fühlende Bürgerschaft, kompetente Menschen und liegt in einer der besten Regionen der Welt. Daher ist es angebracht, rasch zu handeln, bevor in Bamberg der „Kipppunkt“ erreicht ist und die Stadt irreparabel beschädigt worden ist.
Ermöglichungskultur
Wodurch können wir in den häufigen Krisen und bei heftigen Schocks wie dem Corona-Virus auf individueller, zivilgesellschaftlicher und städtischer Ebene dazu beitragen, dass unsere Resilienz gefördert wird, dass wir wieder aufstehen und neue Wege für Stabilität, Wachstum und Nachhaltigkeit finden? Wir brauchen zuerst eine Ermöglichungskultur mit Rahmendaten, Werten und Normen, damit die heimischen Leistungsträger belohnt und motiviert tätig sein können und die Bürger frei und innovativ ihr Stadtleben werthaltig mitgestalten können: ökonomisch, sozial und ökologisch.
Wie wollen wir zusammen leben?
Dazu brauchen wir in Bamberg einen visionären sozialen Vertrag über die sinnvolle Nutzung unserer städtischen Räume. „Wie wollen wir zusammen leben?“ lautet die drängende Frage. Es geht heute um das gelingende Gemeinsame von sozialen Individuen, Haushalten, Arbeitnehmern und Unternehmern, Wissenschaftlern, Weltbürgern, Menschen in all ihrer Diversität und Pluralität.
Menschen bevorzugen – durch die Pandemie noch mehr getrieben – zu allererst eine Stadt, die ihnen Sicherheit, Geborgenheit und Stabilität bietet. In dieser Heimat wollen sie ihre Stadt mit allen Sinnen angenehm und gesund wahrnehmen. Schließlich wollen Menschen dort miteinander auch respektiert mit Stolz leben, sich selbst verwirklichen und beruflich entfalten können.
Das sind die drei großen Bedürfnisse der Menschen.
Dazu braucht es einen Konsens in Politik und Bürgertum, dass die Steigerung der Aufenthaltsqualität und Lebensqualität als oberstes Leitziel sofort verfolgt wird. Attraktiv sind Städte, in denen junge Menschen, Familien, Senioren und Gäste gerne miteinander leben.
Dort gedeihen leistungsfähige Unternehmen, innovative Geschäfte, gastfreundliche Restaurants und die neuen Formen von Wohnen, Arbeiten und Leben mit HomeOffice und Remote. Daraus fließen künftig nachhaltig Werte, Wohlstand und auch Steuern für die Stadt.
Wenn das Stadtparlament und die Bürger das wollen, dann finden sie auch die nötigen Lösungen dazu. Wenn sie das nicht wollen, dann finden sie Gründe dafür.
Drei kommunalpolitische Handlungsfelder ermöglichen es den Bürgern und Unternehmen der Stadt, wie in den letzten tausend Jahren heute in der Welt historischer Umbrüche die notwenige Resilienz für die Zukunft zu stärken.
Von der digitalen Diaspora zur „Smart City“
Im wichtigsten Handlungsfeld, der Digitalisierung, hat Bamberg die erste Halbzeit schon verloren und in der zweiten Halbzeit liegen wir zurück. Aber jetzt beginnen die Aufholjagden der Innovation durch Digitalisierung.
Die Stadt erhält vom Bund 17,5 Mio. Euro für das zukunftsorientierte Projekt „Smart City“. Alles, was hier unter den Schlagworten Konnektivität, zukunftsorientierte Arbeitsplätze, digitales Rathaus, künstliche Intelligenz, wertschaffende Existenzgründer und weltweite Vernetzungsmöglichkeiten der Bürger angepackt wird, ermöglicht es, die Stadt klüger, grüner, sozialer, energiesparender und effizienter zu machen. Gerade die Digitalisierung wird den neuen Weg der Kunden zu Unternehmen besonders für Existenzgründer attraktiv machen. Die Kunden erhalten in der Inselstadt eine hochattraktive stationäre Einzelhandelslandschaft aus intelligenter Verbindung von Offline und Online. Und schließlich ist die Universität mit ihrer großen Fakultät „Wirtschaftsinformatik und Angewandte Informatik“ auf dem Weg zur Führerschaft in Deutschland. Wird Smart City richtig umgesetzt, ist die wirtschaftliche, soziale und ökologische Dividende für die Bürger hoch.
Aus alten Steinen, Pflaster und Teer zur grünen „Schwammstadt“
Lebt nicht Bamberg besonders von Jahrhunderten alten Sandsteinen, dem Fleiß der Gründerzeit und der Musealisierung für touristische Vermarktung? Gerade aus diesen Sandsteinen, die uns auf den Weg gelegt wurden, kann man die Tristesse vertreiben und eine grünende Inselstadt bauen. Unsere Inselstadt ist viel zu warm im Sommer. Die Steine und Versiegelungen müssen aufgebrochen werden. Möglichst viel Wasser soll durch die Stadt und in der Stadt fließen: so wie früher als kleine Bachverläufe, als Wassertröge oder Brunnen. Dann müssen auch Bäume, Sträucher, Blumenwiesen bis zu grünen Häuserwänden und grünen Dächern in der Innenstadt gedeihen und blühen. Wind und Wetter müssen für das Stadtklima genutzt werden. Der neue Zukunftsperspektivenstädtebauliche Erfolgsfaktor „Schwammstadt oder Sponge City“ will möglichst viel Wasser und Frische in der Stadt sichern und zuführen. „Schwammstädte“ generieren Wettbewerbsvorteile zum Wohle aller Bürger.
Kluge Mobilität – menschlich, ökologisch und ökonomisch
Die Innenstadt von Bamberg ist nicht für immer mehr, immer größere, immer schnellere und schwerere Autos gebaut. Die Zukunft von lebenswerten Innenstädten liegt nicht im Auto, sondern in der intelligenten Mobilität: sparsam, leise, emissionsarm, sozial, behutsam und nutzerfreundlich.
Die treibenden Begriffe dazu lauten: attraktive Fußwege, sichere Fahrradwege, autonomes Fahren, alternative Antriebe, Car-Sharing, vernetzter öffentlicher E-Verkehr und eine Bamberger Mobilitäts-App, die die Anbieter von Fahrzeugen koordiniert, miteinander vernetzt und abrechnet. Damit die Menschen sich auch gerne in Bamberg gut und sicher bewegen sowie lange verweilen können, muss schnell die Leitlinie „Innenstadt als sichere Fußgängerzone“ verfolgt werden. In dieser haben die gehenden Menschen Vorfahrt. Die Radfahrer nehmen Rücksicht darauf. Und Autos sind nicht mehr wie bisher zu etwa 80 Prozent Durchfahrer der Innenstadt. Der Zugang für Autos beschränkt sich auf die berechtigten Anwohner, die Versorgungslogistiker, auf Kunden und Gäste für kurze Besorgungen. Das ermöglicht allen Menschen in der Innenstadt vorteilhaftere Mobilität als bisher – aber ohne die bisherigen Belastungen für Mensch und Umwelt.
Auf dem Weg zum Kipppunkt: rechtzeitig umdenken, umlenken
Wenn aber die Entwicklung in Bamberg unkorrigiert weiterläuft und der „Kipppunkt“ überschritten ist, dann droht dem Venedig des Nordens in kurzer Zeit das Schicksal vom Venedig des Südens. Ein mögliches Szenario für Bamberg: Die Hälfte der einheimischen Bürger zieht weg aus der Inselstadt oder wird wegen der Immobilienpreise verdrängt. Erbende Kinder können die Schenkungs- oder Erbschaftssteuer nicht bezahlen und müssen verkaufen. Internationale Investoren kaufen ganze Straßen auf. Viele Häuser werden für touristische Lokationen umgewandelt mit einzelnen schmückenden einheimischen Bewohnern darin nach dem Geschäftsmodell der Plattform Airbnb. Der billige Massentourismus bedient sich tagsüber mit Bamberger Souvenirs aus asiatischer Herstellung. Viele Wohnungen in der Innenstadt dienen als Zweit-, Dritt- oder Viertwohnung auswärtiger Eigentümer als Kapitalanlage gegen unser „Schwundgeld“. Schmucke Gründerzeithäuser finden vermögende neue Eigentümer, die ein paarmal im Jahr mit ihren Freunden nach Bamberg kommen, um darin zu feiern. Niedrigzinsen verbunden mit Versäumnissen in der Flächennutzungsplanung beschleunigen die Umverteilung der Immobilien an Vermögende – ein Phänomen, das wir in deutschen Metropolen erleben. Pop-up-Stores befriedigen kurzlebige Konsumbedürfnisse. Die Güter des Alltags besorgen Lieferdienste und Onlinehandel. Vielleicht gibt es dann auch noch Räume für das „Koma-Saufen“ wie auf Mallorca. In dieser pseudomusealen Welt findet kein Leben einer herkömmlichen städtischen Zivilgesellschaft mehr statt. Bamberg unter dem Virus derartig radikaler Veränderungen, kommerzieller Verwertung und Spekulation wäre öde und anonym.
Aber: Solange die Kerze in Bamberg noch brennt, kann man das alles noch verhindern oder reparieren.
Damit wir später nicht wie Tatjana bei Alexander Puschkin klagen müssen: Das Glück war möglich und so nah.
Clemens Renker
Der Beitrag erschien in der Ausgabe 1/2022 der „Inselrundschau“, der Stadtteilzeitung des Bürgervereins Bamberg-Mitte e.V. – weitere Infos unter https://www.bvm-bamberg.de/
Anmerkungen zu zwei Stichpunkten:
1) Digitalisierung
Es ist schon einige Jahre her: Man brauchte nur das Wort „Internet“ erwähnen – schon wurde nichts mehr hinterfragt, jede noch so weit hergeholte „Geschä#ftsidee“ wurde ideell und materiell gefördert. Doch nach einiger Zeit, erhebliche Werte waren „verbrannt“, platzte die Blase. Endlich kapierten sie auf breiter Front, daß das Internet zwar deutliche Fortschritte in der Kommunikation erbrachte, letztlich aber „nur“ Mittel zum Zweck ist. Es ermöglicht und vereinfacht Wertschöpfung, schafft aber selbst – ähnlich der Verkehrsinfrastruktur – keine eigenen Werte. Das heißt nicht, daß hier kein Geld zu verdienen wäre – aber eben nicht aus sich selbst heraus, sondern im Dienste anderer.
Die Bilder gleichen sich – nur heißt das Zauberwort heute: „Digitalisierung“. Ungeachtet aller Risiken (Datenschutz, Hacking, gerade wieder hochaktuell geworden: Cyberkrieg), soll alles und jedes auf Teufel, komm‘ ‚raus! digitalisiert und vernetzt werden. Niemand fragt im konkreten Einzelfall nach Sinn und Nutzen, eine Abwägung, was tatsächlich (angesichts des Hackerrisikos) quasi-öffentlich – und damit sabotierbar – zugänglich sein muß und was besser in abgeschlossenen Systemen verbleibt.
2) sichere Radwege
Es gibt fahrbahnbegleitend keine sicheren Radwege, es sei denn, sie wären über lange Abschnitte nicht von Kraftfahrzeugen zu kreuzen – innerorts ein Ding der Unmöglichkeit, außerorts an etliche weitere Bedingungen gebunden.
Folgerichtig war die generelle Radwegbenutzungspflicht, Mitte der 1930er Jahre zwecks Beschleunigung des Kraftfahrzeugverkehrs eingeführt, 1997 aus der Straßenverkehrs-Ordnung gestrichen worden. Denn das Unfallrisiko auf fahrbahnbegleitenden Radwegen ist signifikant höher als beim Radeln auf der Fahrbahn – kürzlich noch durch eine Studie der Unfallversicherer bestätigt. Konflikte mit dem fußläufigen Verkehr, Risiken durch unachtsam geöffnete Autotüren und nicht zuletzt die hohe Zahl der Unfälle an Kreuzungen, Einmündungen und Zufahrten, verursacht durch Mißachtung der Radlervorfahrt und zu deutlich über 90 % von Pkw-Fahrer/inne/n zu verantworten – die allein auf schwere Nutzfahrzeuge zielenden Maßnahmen der jüngeren Vergangenheit bleiben hier wirkungslos – belegen: Die Verdrängung des Radverkehrs in den Seitenraum löst keine Probleme, sondern verschärft sie erheblich.
Überdies bieten die weitaus meisten Städte gar nicht den Raum, getrennte Verkehrsflächen in ausreichender Dimensionierung bereitzustellen. Den Verkehr sicherer zu gestalten, kann daher nur durch Reduzierung und Verlangsamung des motorisierten Verkehrs gelingen. Zudem sind dringendst Verkehrserziehung und Fahrausbildung zu reformieren. Es darf nicht länger von Kindesbeinen an vermittelt werden, das Kraftfahrzeug wäre das Maß aller Dinge, dem sich alle anderen unterzuordnen hätten.