Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 56
Romanepisoden von Joachim Kortner
Cassata
Der VW hält in der Raststraße. Attilio Panciera steigt aus. Holt aus dem Fußraum ein geheimnisvoll abgedecktes Etwas. Er bückt sich vor Klingelschildern, betritt das schmutziggraue Hinterhaus. Eine Überraschung soll er bringen. Mitten in einen runden Geburtstag soll er hineinplatzen. Niemand weiß etwas davon, nicht einmal die Ehefrau. Im dunklen Gang Stimmengewirr. Kaffeeduft. Er klopft. Im Geschnatter der Gäste hat Jakob als Einziger etwas gehört, zieht die Tür zum Gang auf. Ihm stockt der Atem. Sein Attilio Panciera auf einem fremden Stern, hier im 4. Stock mit einer silbrig glänzenden Halbkugel in den Händen. Der gleiche Mann, dem er vor ein paar Tagen die gestohlene Mark auf den Glasteller gelegt hat. Die Gäste blicken Panciera verständnislos an. Opa und Tante Helene, die anderen eingeladenen Oberschlesier. Der Reipricht mit dem dürren, faltigen Hals im Flanellhemd. Sie alle starren zur halb offenen Zimmertür. Was will dieser Mann mit dem Schnurrbart und den grauen Schläfen?
Jakob und Andi schämen sich in dem ärmlichen Dachzimmer.
Die Enge, die verständnislosen Blicke, die Streuselkuchenreste, der riesige Kaffeefleck neben der Tasse vom alten Reipricht. Eigentlich gehört Attilio Panciera ihnen doch allein. Er muss dabei aber in seinem Revier bleiben. Bei den Resopaltischen und dünnbeinigen Stahlstühlen in dem langen Ladenschlauch am Markt. Hier oben im vierten Stock des Hinterhauses fühlen sie sich wie aufgestöbert. In ihrer Armseligkeit ertappt.
Der Vater schlägt mit dem Kaffeelöffel an die Tasse, bittet um Gehör. Einen echten Italiener wolle er begrüßen. Die Worte Attilio Panciera lässt er sich auf der Zunge zergehen. Der Angeredete hält die silberne Halbkugel immer noch in den Händen, setzt sie auf einem frei geräumten Stück Tischtuch ab. Er hebt den silbrigen Deckel. Ein allgemeines Ah.
La mia bellisima Cassata.
Signore Panciera hat die Eisbombe garniert. Eine Fünfzig aus Schokoladeröschen. Bald sitzt er, hilflos eingekeilt, vor Streuselkuchen und Buttercremetorte. Isst brav auf. Hedwigs Spezialrezept aus Margarine und Vanillepudding. Der Vater teilt die Cassata mit dem Brotmesser. Laute des verzückten Genießens mischen sich mit dem Klimpern der Löffel.
Sie katholisch – wir auch katholisch.
Der Vater zupft den Panciera am Jackenärmel, drängt ihn zum Wandbild mit der Madonna von Fatima. Auch noch den gerahmten Papst Pius den Zwölften hat er in Augenschein zu nehmen. Der Italiener nickt sein Si Si Si. Den Kühlbehälter muss er noch in seine Eisdiele mitnehmen. Hedwig lässt sich nichts nachsagen und spült gründlich ab, trocknet nach, reibt blank.
Aufe wiedersähäne!
Tante Helene neigt sich zum Opa. Siehstu, der kann schon a bissl Deutsch. Der Opa nickt, lächelt mit dem letzten Zahn. Hat nichts verstanden. Die Ohren.
Alle Romanepisoden: https://www.wiesentbote.de/?s=Fortsetzungsroman%3A+Raststra%C3%9Fe
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
Neueste Kommentare