Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 53

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Stalin in Budapest

Der Gunther hat ein Stipendium gekriegt.

Und was zur Zeit aus dem Radio kommt, ist auch zum Freuen.

Jeden Tag hängen alle am Apparat. Wenn der Vater in der Mittagspause aus der Sparkasse kommt, muss der Nord-Mende-Super schon eingeschaltet sein. Sein heiliges Mittagsschläfchen auf der Klappcouch braucht er nicht mehr. Die Riesenstatue vom Stalin sollen sie schon vom Sockel gestürzt haben.

Das sind Hunde, die Budapester, jubelt der Gunther. In seiner Sprache das höchste Lob. Die Ungarn wollen sich nicht mehr unterdrücken lassen. Von den Kommunisten. Da sind die Gefängnisse voll. Aber keine Mörder und Banditen. Nein, wer nicht kommunistisch sein will, der ist weg vom Fenster, sagt die Mama. Aber die lassen sich das nicht gefallen. Die sind scharf wie Paprika. Und Paprika kommt ja bekanntlich aus Ungarn, lacht sie.

Es ist zwanzig nach zwölf. Der Vater hätte zu seiner Mittagspause aus der Sparkasse schon längst da sein müssen. Jakob hält es nicht mehr aus, rennt ihm entgegen. Das muss er ihm gleich erzählen. Richtige Verbrecher sind das, die Kommunisten. Von einem Hausdach haben die in die unbewaffneten Demonstranten geschossen. Mitten hinein. Mit Maschinengewehren. Über hundert sind tot liegen geblieben. Sogar Kinder, keucht er.

Am Nachmittag muss er unbedingt ins Kino. Muss sehen, ob es davon schon Filmaufnahmen gibt. Passage Lichtspiele in der Mohrenstraße. Wieder einmal eine Mark und zehn für das zweite Parkett aus Mamas grünem Geldbeutel geklaut. VierzehnUhr-Vorstellung Glenn Miller Story. Kinowerbung und Wir bringen demnächst.

Dann endlich die Fox-Tönende-Wochenschau. Ungarn gleich an erster Stelle. Junge Kerle klettern mit Leitern auf den Stalinriesen. Gerade so groß wie ein Stiefel von dem sind die. Seile haben sie ihm um den Hals geschlungen. Einer bearbeitet die Kniekehlen vom Stalin mit dem Schweißbrenner. Unten auf der Straße zieht die Masse an den Seilen. Die rufen auf Ungarisch etwas, das nur Hau Ruck heißen kann. Jakobs Hände haben die beiden Armlehnen der Kinositze im krampfhaften Griff. Das Ungeheuer da oben wankt nicht. Raupenschlepper reißen das Götzenbild herunter. Der Stalin knallt auf das Pflaster, wirbelt gefallenes Herbstlaub auf. Triumphgeschrei. Männer in Anzug und Krawatte spucken auf den Stalinkopf, treten ihn mit den Füßen. Hinten aus dem Sperrsitz das Bravo einer dünnen Frauenstimme. Eine Zugmaschine schleift den Koloss durch die Straßen. Die Stiefel bleiben auf dem Sockel stehen. Ein Junge in Jakobs Alter steckt Flaggen hinein. Blutsäufer.

Laut und deutlich sagt es ein älterer Mann in Jakobs Sitzreihe.

Die Glenn Miller Story. Gott sei Dank in Farbe. Wie der Glenn und sein Swingorchester berühmt wurden. In the mood und Chattanooga Chu Chu. Da könnte er schon Teile vom Text mitsingen, traut sich nicht, weil das Kino fast leer ist. Am Schluss ist der Glenn mit dem Flugzeug abgestürzt. Das haben die aber nicht direkt gezeigt. Bloß die Witwe hat man gesehen. Und wie sie geweint hat.

Das Licht geht langsam wieder an. Der schwere dunkelblaue Samtvorhang quillt aus seinem Versteck hervor. Außer ihm bloß vier oder fünf Leute im Kino. Er biegt in seine Raststraße ein.

Die Sache mit dem Schweißbrenner an der Kniekehle vom Stalinungeheuer kann er zu Hause nicht erzählen. Woher er das Geld für die Eintrittskarte hat, das möchte er lieber nicht gefragt werden. Wenn der Andi die Hausaufgabe in Mathe schon gemacht hat, dann wird er sie einfach aus seinem Heft abschreiben, ihm dafür die Übersetzung in Englisch geben. Dem Bruder muss er das natürlich sagen. Das mit den Stiefeln auf dem Sockel. Wie das Laub aufgewirbelt wurde und das von dem Raupenschlepper natürlich auch. So etwas kann man doch nicht für sich behalten.

*

Camembertbrote mit gehackten Zwiebeln darauf. Mamas Spezialität. Ob er ihr das Teewasser auf den Gasherd stellen soll, fragt er sie in seinem Diebesgewissen. Alles umhockt das Radio. Das grüne magische Auge auf scharf gestellt. Inzwischen hat der Gunther Radio Budapest in deutscher Sprache eingefangen. Bedrohliche Nachrichten. Russenpanzer in der ungarischen Hauptstadt. Granaten in die Wohnhäuser. Leichenberge in den Straßen.

Der Papa kommt gerade vom Dienst nach Hause.

Das ist der gottlose Kommunismus, sagt er und gießt sich seine große Henkeltasse Pfefferminztee ein. Im Zeitungskiosk an der Mohrenbrücke hat er sich eine Illustrierte gekauft. Wegen dem Pal Maleter. Das ist ein richtiger Held, sagt er. Und seine Stimme bebt. Alle beugen sich mit ihren Käsebroten über das Foto von dem Maleter. Drei Sterne am Uniformkragen.

Ein Zwei-Meter-Mann. Ein Riese an Gestalt und Kraft. Und katholisch ist der auch. Der wird es dem dreckigen Russenpack schon zeigen.

Die Mama mahnt. Sie sollten den guten Tee nicht kalt werden lassen. Sie kauen, ohne zu schmecken. Der Papa blättert. Ein Mann mit einem Bein. Das andere ein hölzerner Stelzfuß. Aber ein Gewehr in der Hand. Junge Kerle wie Jakob und Andi. Aus einem Kanister füllen die mit einem Trichter Benzin in Weinflaschen ab.

Damit kann man Panzer knacken, erklärt der Gunther. Ein Stück Watte oben in die Flasche, anzünden und dann von hinten auf den Benzintank vom T 34. Oder von oben in den offenen Turmdeckel. Kannst du einfach aus dem Fenster schmeißen.

Mit wenigen Strichen skizziert er es auf den Rand des Coburger Tageblatts, strichelt die Flugbahn der gläsernen Brandbombe.

Jakob würde auf den Panzer klettern und das Ding oben hinein fallen lassen. Die könnten dann in ihrem eigenen Saft schmoren, die Drecksäcke. Gelächter.

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Raststraße: Roman in Episoden

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Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

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