Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 50

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Verdammte Pflicht und Schuldigkeit

Im März ist der Stalin verreckt. Der Blutsäufer. Und jetzt werden die in der Ostzone dem Spitzbart Feuer unterm Arsch machen.

Das hat der Textil-Dorrmann von gegenüber zu einem Hosenträ- ger-Mann gesagt. Jakob ist noch nicht mal vierzehn, aber er hört gerne zu, wenn die Erwachsenen so über Politik sprechen. Den ganzen Tag laufen schon die Radioapparate mit den Reportagen von RIAS-Berlin.

Der Hosenträger-Mann meint, man müsste da bloß einmal kurz eine SS-Panzerdivision hin schicken. Die würden mit dem Russen schon aufräumen. Das könne man laut sagen, hat darauf der Textil-Dorrmann geantwortet und gelacht wie ein Ziegenbock.

Fallschirmjäger wären noch besser, meint er. Wegen dem Überraschungseffekt.

Auf dem Rad kommt der starke Klaus daher, gibt Jakob einen Wink, tut geheimnisvoll, fragt ihn, ob er dicht halten kann. Sie fahren in den nahen Park von Schloss Hohenfels, biegen in den düsteren Hohlweg ein. Der starke Klaus sagt kein Wort. Ihre Räder lassen sie in das weiche Geäst der Schneebeerenbüsche gleiten. Unsere Ehre heißt Treue. Der SS-Dolch mit dem eingravierten Spruch. Auf den ist der starke Klaus besonders stolz. Etwas modriges Laub und ein paar Zentimeter vom Waldboden kratzt er damit weg. Ein gedeckelter Blechkasten. Ein öliger Lappen. Mit den Fingerspitzen faltet er ihn auf.

Eine echte Walther P 38.

Der starke Klaus sagt das ganz andächtig. Er holt einen halben Meter Klopapier aus der Lederhose und wickelt den rutschigen Pistolengriff ein. Ein Knopfdruck. Das Magazin schnellt hervor.

Acht Patronenzähne blecken in gefährlichem Messingglanz.

Kaliber neun Millimeter. Das haut einen Elefanten um.

Woher er das Ding hat, will der Klaus nicht sagen. Die Amis würden ihm den Arsch aufreißen, meint er und grinst. Wenn die wüssten, dass er eine hat.

Echte Walther P 38. Ein Rückschlag, da denkst du, du kriegst einen Tritt.

Daumen und Fingerspitzen formen einen Kreisumfang. Einen Kiefernstamm dieses Umfangs habe die durchgeschossen. Jetzt fühlt auch Jakob ihr Gewicht, legt in Wildwest-Manier auf einen Baum an, drückt ein Auge zu, ahmt mit pch einen Schussknall nach. Der starke Klaus blickt ihn erwartungsvoll an, nimmt ihm die Pistole aus der Hand. Sein Baby will er ins Kinderbettchen legen. Der Öllappen. Der Deckel. Beide scharren den lockeren Waldhumus darüber. Dass der starke Klaus ausgerechnet ihm sein Baby gezeigt hat. Ihm, dem zwei Jahre Jüngeren. Er ist sich der Ehre bewusst. Wie selbstverständlich der annimmt, dass er nichts ausplaudert. Sie fahren zurück in die Stadt, gehen ihrer Wege.

Radioton aus den aufgestoßenen Sommerfenstern der Nachbarhäuser. Sprechchöre, eine aufgeregte Reporterstimme. Er lehnt sein Rad an den Bombensplitterschutz vor dem Kellerfenster, schwingt sich auf diesen dicken Betonblock. Hier sitzt er fast auf Fensterhöhe. Hier will er mehr mitbekommen von dem, was gerade durch alle Lautsprecher kommt. Der Herrenschneider Schwarzenbeck hat sich ein Sofakissen auf das Fensterbrett im Erdgeschoss gelegt, stemmt die Ellenbogen darauf. Das Radio hat er laut aufgedreht. Als ob er die ganze Raststraße mit Nachrichten versorgen müsste.

Die Arbeiter in Berlin würden den Kommunisten jetzt gerade ihr Kommunistenhaus anzünden. Ein Gefängnis hätten sie auch schon gestürmt, die Gefangenen aus ihren Zellen geholt.

Noch nie hat ihn der Herrenschneider Schwarzenbeck so freundlich angesprochen. Das letzte Mal sogar mit Anzeige gedroht.

Vor zwei Jahren war das. Beim Zukleben der Klingelleiste mit Leukoplast in flagranti erwischt. Ein Theater ist das damals gewesen. Mit der Mama musste er antanzen, sich bei dem entschuldigen. Hoch und heilig geloben, nie mehr so einen Unfug zu machen. Nach dem Sturmklingeln noch Schneider Meckmeckmeck ins Treppenhaus gerufen. Dafür hatte er von der Mama eine geknallt bekommen. Direkt vor dem Meckmeckmeck. Was, Frechheiten auch noch? Auch auf dem Heimweg hatte sein Argument, das mit dem Meckmeckmeck habe er aus Max und Moritz, die Mutter nicht überzeugen können.

Buch ist Buch. Und Raststraße ist Raststraße.

Ob er wohl vergessen habe, was am Ende aus Max und Moritz geworden sei. Aber das war zwei Jahre her. Heute jedenfalls dreht der Schwarzenbeck sein Radio noch lauter, damit Jakob auf dem Betonblock noch besser mithören kann. T 34 Panzer sind gerade aufgefahren. Kurze Feuerstöße von MG’s. Die Menschen rennen, manche werfen sich auf den Asphalt. Ob sie getroffen wurden oder ob sie bloß in Deckung gegangen sind – der Reporter weiß es nicht. Auf jeden Fall breite sich der Freiheitskampf jetzt über viele Städte der Ostzone aus. Wenn das in Sonneberg losgeht, er würde sofort wieder in seine Lutherstraße ziehen. Aber nur, wenn der Russe abhaut.

Der Thüringer lässt sich nicht unterkriegen.

Jung und gesund wenn er wäre, ruft der Schwarzenbeck in die Reporterstimme hinein, er würde sich irgend einen Schießprügel schnappen. Jedenfalls wüsste er dann genau, was seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit wäre. Dieser verfluchte Granatsplitter im Kreuz. Wegen dem Scheißding könne er noch nicht einmal im anständigen Schneidersitz auf der Tischplatte arbeiten. Auf einem verdammten Küchenstuhl müsse er nähen.

Wie die Weibsbilder.

*

Den Stadtrand hat er weit hinter sich gelassen. Ein Wegweiser.

Neustadt 10 km. Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können. War zum Versteck auf Schloss Hohenfels gefahren.

Einfach noch mal die P 38 ansehen. Allein. Ohne, dass der starke Klaus sie ihm gleich wieder aus der Hand nimmt. Nur ganz kurz die dünne Erdschicht wegscharren. Den Deckel abheben, den Öllappen abwickeln, die Pistole in die Hand nehmen, in die Luft zielen, sie dann einwickeln, den Deckel schließen und Erde darüber schieben.

Doch der Satz von dem Schwarzenbeck hat ihn nicht in Ruhe gelassen. Das von dem Schießprügel. Von der verdammten Pflicht und Schuldigkeit. Er hatte dann die Walderde über die leere Blechkiste verteilt. Der Pistolengriff aus seiner Lederhosentasche. Viel zu verräterisch. Der erdkalte Stahl an der Bauchhaut lästig und beim Treten hinderlich. So hatte er sein Hemd ausgezogen, das öltriefende Ding darin eingewickelt und sein geheimnisvolles, todbringendes Bündel mit den dreifach verknoteten Ärmeln auf den Gepäckträger geklemmt. Mit nacktem Oberkörper war er losgefahren. Hosenträger auf der blanken Haut.

*

Die gelben Ortsschilder. Dörfles-Esbach. Wie ein Finger droht ihm heute dieser Riesenschlot der Ziegelbrennerei. Vertraute Namen aus verwegenen Radtouren mit Bruder und Clique. Oeslau. Mönchröden. Heute fühlen sie sich fremd an. Da vorne am Ortsausgang. Ein grüner Volkswagen der Landpolizei lauert auf ihn. Absteigen. Die Pumpe nehmen. So tun, als ob im Hinterrad Luft fehlt. Dabei die Fracht auf dem Gepäckträger abschirmen.

Warum er denn mit nacktem Oberkörper fährt, werden sie ihn fragen. Obwohl er doch ein zusammengerolltes Hemd auf dem Gepäckträger hat.

Endlich. Die fahren vorbei. Der blonde Polizist am Steuer hat die Schildmütze abgenommen, lächelt ihm sogar aus dem Wagenfenster zu. Das da vorne muss Neustadt sein. Der Gaskessel, das finstere Riesentier, hebt sich in den Horizont. Wie oft hat er ihn schon von der hohen Bastei der Burg in der Ferne gesehen.

Bei günstiger Sicht auch dieses Sonneberg in der Ostzone gleich dahinter. Immer im Dunstschleier, immer abweisend, fremd, menschenlos. Der amerikanische Aufklärer zieht seine Kreise über der Stadt. Ein grüner Panzerwagen vom Bundesgrenzschutz überholt ihn. Er steigt ab, nimmt die riskante Fracht vom Gepäckträger, klemmt sie sich unter den Arm. Das holprige Stadtpflaster könnte die Pistole aus der Halterung rütteln. Aus einer Seitengasse wird ihm sein Name zugerufen. Der Kaminski aus der Parallelklasse. Mit dem hatte er in der Pause öfter mal Briefmarken getauscht. Er tut so, als habe er nichts gehört, steigt auf, fährt einhändig, das Pistolenhemd an die Brust gepresst.

Der Blechpfeil weist zur Zonengrenze. Er ist froh, dass er sich nicht durchfragen muss. Ein offener Ami-Jeep mit herabgebändigter Peitschenantenne. Schnürstiefelbeine ragen aus dem Einstieg. Die Helme glänzen matt. Den Soldaten fühlt er sich heute auf geheimnisvolle Weise zugehörig. Wenn die deutschen Grenzer in ihren grünen Uniformen nicht wären, er würde den Amis seine Waffe zeigen. Die hätten bestimmt nichts dagegen. Im Kino tragen die doch alle Waffen. Er schiebt sein Rad an eine kleine Gruppe heran. Sie vertreten sich die Beine, albern herum, kauen, rauchen. Ein paar Worte schnappt er auf.

Soviets. Commies. Give ‚em hell.

Want some candy?

Ein langer Soldat hält ihm etwas vor die Nase. Karamelbonbons. Eine ganze Stange. Er wird rot, nimmt das Geschenk an, lispelt brav sein Thank you. Breitbeinig stehen sie da, tasten mit ihren Ferngläsern den Horizont, das nahe Buschwerk und den Waldrand ab.

Wanna have a look through my field glass?

Er nimmt das Fernglas aus der Hand des Soldaten, klemmt sich das Pistolenhemd zwischen die Knie. Das dünne Holzgerüst eines Wachturms. Darunter einer in Uniform. Duckt sich von Hecke zu Hecke, späht mit dem Fernglas herüber, steht ungeniert auf und fotografiert. Jakob fühlt sich entdeckt, gibt das Glas zurück. Aus dem Jeep quäkt eine blecherne Funkstimme. Ein Soldat reißt sich das Mikrofon aus der Halterung, spricht hinein.

Straffer Befehlston. Die anderen drei springen auf. Abfahrt in der Staubwolke eines Feldwegs.

Die Zonengrenze stumm und starr. Er fühlt sich verlassen. Die Hosenträger auf der blanken Haut haben ihm die Schultern wund gerieben. Er streift sie zur Seite, spürt, wie der Schmerz etwas nachlässt. Inzwischen ist der Himmel grau geworden. Ihn fröstelt. Wenn selbst die Amis abgehauen sind – was soll er dann noch hier? Es dämmert ihm, dass er noch nie im Leben eine richtige Pistole abgefeuert hatte. Eine, bei der man tot umfällt, wenn man getroffen wird. Und ob der Meckmeckmeck tatsächlich bewaffnet an die Zonengrenze gefahren wäre, wenn er den Granatsplitter nicht im Kreuz hätte?

Jetzt, wo ihn nichts mehr antreibt, graut ihm nur noch vor dem langen Heimweg. Erst einmal durch dieses Neustadt zurück fahren. Dann hat er das Fremde, Bedrohliche hinter sich gebracht.

Hoffentlich nicht wieder der Kaminsky. Der stellt womöglich lästige Fragen. In der Einfahrt zu einem Feldweg wickelt er die P 38 aus und zieht sich das ölfleckige Hemd über seine Gänsehaut. Am Straßenrand die Riesenblätter der Klettenstauden. Er wickelt die Waffe in dicke Lagen davon ein, klemmt sich das grüne Paket auf den Gepäckträger.

Und wenn der starke Klaus inzwischen sein Waffengrab kontrolliert hat? Wie ein Bleigewicht hängt sich der Gedanke in jeden Pedaltritt. Er kann doch nicht zugeben, dass er sein Vertrauen missbraucht hat. Auf ewig hätte er bei dem verschissen, würde als Kameradendieb dastehen. Für die Raststraße wäre er das Oberarschloch. Dabei hatte er doch eigentlich nur die Freiheit verteidigen wollen. Also wird er lügen, alles abstreiten. Wenn es sein muss, sogar sein Ehrenwort geben. Hoffentlich sagt der starke Klaus nicht: Schwöre beim Leben deiner Mutter. Nur dann müsste er einknicken und alles zugeben.

*

Wie ein Stein versinkt das Bündel der Klettenblätter im Fluss.

Dann tauchen die Blattriesen einer nach dem anderen wieder hoch, werden von überhängenden Zweigen gefangen genommen, von Strudeln in den Kreis gezwungen, vom Sog der Flussmitte erfasst. Die tiefste Stelle hat er sich ausgesucht. Da, wo die Lauter sich mit der Itz vereint. Nie im Leben darf irgendjemand erfahren, wo die P 38 liegt. Da habe schon mal einer versucht, bis auf den Strudelgrund zu tauchen. Von dem habe man nie mehr etwas gehört. Der starke Klaus hatte ihnen das mehr als einmal erzählt. Immer dann, wenn sie auf der Heilig-Kreuz-Brücke gestanden hatten.

*

Der starke Klaus hat Jakob keine Wahl gelassen. Der kam aufgeregt über die Straße gerannt, als er mit der Klettenblätterpistole zum Hohenfels abbiegen wollte. Irgend so ein Schwein müsse sie beim Vergraben beobachtet haben. Auf jeden Fall sei der Blechkasten jetzt leer. Einen Verdächtigen hatte er auch schon.

Den Liebespaarbeobachter vom Hohenfels, den alten Knacker mit dem Fernglas, den Rumschleicher, den elendigen.

*

In der Dachwohnung der Raststraße immer noch das Radio.

Beim Abendessen sprechen sie nur das Nötigste. In der Ostzone alles von den Panzern niedergewalzt, von der Volkspolizei verhaftet. Angst geht um.

Wirst du sehen, jetzt fangen die Prozesse an.

Das schöne Flanellhemd, wie man sich so einsauen kann. So sitzt du mir jedenfalls nicht am Tisch. Das muss jetzt glatt eine Woche in die Lauge.

Die Fahrradkette sei ihm abgegangen, lügt er. Aber sein Gewissen rührt sich heute nicht dabei. Er könnte es ihr nicht erklären.

Das mit der verdammten Pflicht und Schuldigkeit, das mit der P 38 und der Zonengrenze.

Jakob wird sich nie mehr auf den betonierten Splitterschutz setzen. Womöglich macht der Herrenschneider Schwarzenbeck wieder sein Fenster auf und quatscht ihn dämlich an. Nur wegen dem hat der starke Klaus jetzt keine Pistole mehr.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

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