Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 48
Romanepisoden von Joachim Kortner
Die Zange
An dem Geschäft mit den gewichtigen Schreibmaschinen und klobigen Kolossen von Büromaschinen sind Jakob und Andi unzählige Male vorbeigegangen. Nur ganz blass ist es den beiden bewusst, dass ihr zweitältester Bruder Gunther hier in der Mechanikerwerkstatt in die Lehre geht. In ihren Ferien sehen sie ihn ab und zu in seiner Frühstückspause. Wie er sich mit einer Hand an einer Spitze des Metallzauns festhält, in der anderen sein Schmalzbrot. Auf dem kleinen Hinterhof der Werkstatt.
Fremd sieht er ihnen aus. Im grauen Arbeitskittel gehört er zu einer anderen Welt. An seiner Werkstatt fahren sie mit den Rädern vorbei, die er ihnen aus dem Fahrradschrott vom Schuttplatz zusammengezaubert hat, blicken in die andere Richtung.
Wissen nicht, wofür sie sich schämen und schämen sich dafür, dass sie sich schämen.
Ihre Schülermützen haben inzwischen das strahlende Blau verloren, die schwarz gelackten Mützenschilder abgegriffen. Die Kordelschnur, einst wie Gold, jetzt ist sie blind.
*
Zum Abendessen um sechs hat jeder da zu sein. Die Mama hackt den Dill fein. Gurkensalat in Buttermilch. Der Vater, in bester Laune, singt sein Rammpammpeidam zum Schlagergedudel aus dem Bayerischen Rundfunk. Jakob dreht das Radio ab.
Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne uns und was du uns bescheret hast. Amen.
Nach dem Essen will der Papa allen etwas zeigen. Etwas ganz Besonderes hat er entdeckt. Jakob und Andi löchern ihn. Ob er es in der Hosentasche hat. Oder im Jackett. Ob es etwas Großes, Kleines, Teures, Seltenes, Lebendiges, Nahes, Fernes, Festes oder Flüssiges ist, wollen sie wissen. Er lächelt viel sagend, wiegt ständig den Kopf. Sie geben auf.
Wir danken Dir, Herr Jesu Christ, dass Du unser Gast gewesen bist. Amen.
Alle müssen sie mit dem Vater mitkommen. Bis auf Gunther und Roland. Bestimmt wird es irgendetwas Frommes sein. Ein Marienbild oder eine handgeschnitzte Christusfigur. Vor dem Schaufenster mit den fetten Büromaschinen macht der Vater Halt, stemmt die Hände in die Hüften, blickt Hedwig und die Söhne triumphierend an, deutet auf etwas hinter der Schaufensterscheibe. Neben einer massigen Schreibmaschine ein Tisch mit moosgrünem Samtdeckchen. Darauf ein seltsames Ding.
Zwei Messinggriffe und ein matt glänzender zylindrischer Stahlkopf, aus dem mehrere Fühler herausragen. Einer kleinen Pfote ähnlich. Daneben ein feierliches Blatt Papier. Kunstschrift.
Tastenringzange
Gesellenstück
des Büromaschinen-Feinmechanikers Gunther Kottke
Landessieger von Bayern
Ein Beweis für die Ausbildungsqualität unseres Hauses!
Mit dem Mantelärmel wischt sich Hedwig ihre Rührung vom Gesicht. Warum er denn keinen Ton gesagt hat. Also so was. Er hätte doch was sagen können. Jakob nimmt sich heimlich etwas vor. Gleich am nächsten Tag will er in der Frühstückspause an der Werkstatt beim Gunther vorbei fahren. Dieses Mal wird er nicht in eine andere Richtung schauen. Vielleicht könnte er ihm einen Apfel oder eine Orange über den grauen Eisenzaun mit den Lanzenspitzen werfen.
*
Ihr Gunther. Ihr Zweiter. In der Heimat ist er noch aufs Gymnasium gegangen. Aber der verfluchte Krieg hatte ihm alles verschissen. Schon mit elf hatte er ihr gesagt, dass er große Brücken bauen will. Aus Eisen. Über die Oder sollten die gehen. Zeichnungen davon hatte er ihr auch gezeigt. Alle Brückenbilder hatten eine Sonne mit vielen Strahlen. Als es dann um das Kriegsende keine Buntstifte mehr gab, da wurden es Bleistiftsonnen. Nach der Flucht zu diesem Dorf in der Niederlausitz war es aus mit Mathematik, Englisch und Latein. Da hat er den Acker des Bauern mit Ochsen gepflügt, hoch getürmte Heufuhren durch das Hoftor des Bauern kutschiert, die Dreschmaschine mit Roggengarben gefüttert, Kuhmist und Schweinescheiße auf den Misthaufen gekarrt. Vier ewige Jahre.
Dann dieser novemberkalte Fluss an der Zonengrenze. Alle hatte er sie hinüber geschleppt auf seinem fünfzehnjährigen Rücken. Und jetzt ist er der beste Feinmechaniker von ganz Bayern.
*
In beiden Stadtzeitungen ein Artikel über den Landessieger. Jakob wartet ständig darauf, dass Klassenkameraden ihn auf seinen berühmten Bruder hin ansprechen. Aber er hat vergessen, dass er die Zeitungen ja auch nur wegen der Tastenringzange vom Gunther liest. Und sonst, wie sie, die Heftromane von Billy Jenkins, Tom Prox, Rolf Torring und Jörn Farrows U-Bootabenteuer tauscht und kauft. Schmutz und Schund sagt der Pfarrer dazu. Eines Gymnasiasten unwürdig, meint der Studienrat, den sie in Deutsch haben. Außerdem macht gerade das zerfledderte „Die vollkommene Ehe“ von van de Velde die Runde und jeder wartet sehnlich auf seine Zuteilungswoche. Da hat keiner mehr Zeit für eine Tastenringzange.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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