Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 43
Romanepisoden von Joachim Kortner
Der gefällte Baum
Der Opa greift sich die kurzstielige Axt. Auf dem Hackstock spaltet er grobe Kiefernrundlinge in Scheite und Späne, die in sein Öfchen passen. Das Holz aufheben und unter dem Schuppendach an der Wand aufstapeln, das ist etwas für die Enkel Andi und Jakob. Die werden dafür ein Glas Apfelsaft bekommen, sich mit ihm unterhalten, ihm vielleicht, während die Tante gerade in der Küche die Flasche köpft, einen Witz mit Scheiße oder Schiffe erzählen und dann wieder vom Judenberg in die Stadt hinunter gehen.
Schwindel und Taumel. Ein Auge sieht schwarze Streifen. Die Stirn schrammt im Sturz die Hausmauer. Gnädige Schmerzlosigkeit und Finsternis umfängt ihn.
Als er zu sich kommt, liegt er in seinem Bett. Das große Heftpflaster auf der Stirn fühlt er nicht. Von der Seite her ein Gesicht in sein starres Blickfeld. Ein Mund. Dumpf aus der Ferne VATER. Eine dunkle Gewalt hat seinen Mund versiegelt. Rechtes Bein und rechter Arm pelzig eingeschlafen. Die Tochter tupft den hängigen Mundwinkel. Ein Arzt tätschelt die taube Wange. Fragt, was er denn für Sachen mache. Zeigt freundliche Zähne. Verschreibt etwas.
Der kaiserliche Ulan und Reichsbahnoberschaffner starrt an die Decke.
Der Doktor sagt zur Tochter alsowiegesagt.
*
Die neue Zeit. Liegezeit. Die Magermuskeln schleichen sich fort. Machen aus Beinen und Armen Besenstiele. Füße scheinen zu wachsen. Zwei Kopfkeile. Nicht immer nur auf Zimmerdecke, Fliegen und Lampenschirm starren. Die Enkel können keine eingeborenen Coburgjungen zum Bewundern von Pferdeal- 1phabet und akrobatischem Tischküssen mehr auf den Judenberg locken.
Sein Sohn steigt an der nahen Haltestelle aus dem Stadtbus. Er bringt ein Ölgemälde. Ein gewisser Jendraicyk, seines Zeichens Freizeitkunstmaler. Der sei ihm noch aus der Zeit vor dem Krieg etwas schuldig gewesen. Bald prangt es auf den Opa herab. Jesus hat sein Faltengewand geöffnet, lässt weiße und gelbe Strahlen seiner Güte und Gnade aus dem rosa getönten Herzen hervorquellen. Er lächelt mild.
Als Jakob dem Judenberg einen Besuch abstattet, Änderung, ja Besserung. Opa könnte wieder einen Kackewitz vertragen. So wie in den guten, alten, gesunden Zeiten. Vielleicht den vom Großwildjäger, der sich aus Angst in die Hosen scheißt. Und wo der Löwe auf der Kacke ausrutscht und ihn dann nicht kriegt.
Die verschobenen Lippen formen einen schiefen Lächelversuch.
Der Enkel sitzt auf der Bettkante. Die rote Gummiunterlage.
Uriniger Dunst als Atemluft. Jakob bleibt. Bis er es gar nicht mehr riecht. Die Müdigkeit ist über den Opa gekommen. Sein Lächelversuch löst sich. Nebenan in der Küche hat die Tante Nachrichten angestellt.
*
Noch viele grüne Stadtomnibusse müssen sich mit ihren düsteren Dieselwolken den Judenberg hinauf quälen, bis es dem Opa etwas besser geht. Eines Tages kann er wieder sprechen. Ist es die Sehnsucht nach seinem Leben vor der Bettlägerigkeit? Jedenfalls stößt er das Wort Hut aus. Deutlich und unmissverständlich Hut. Aber das Kopfkissen verträgt sich nicht mit der breiten Krempe. Schließlich behilft sich Tante Helene mit einer braunen Baskenmütze. Die scheint ihm dieses gewisse Spannungsgefühl um die Stirn zu geben.
Einreiben von Rücken und Kahlkopf mit Franzbranntwein. Die Stube erfüllt vom lustvollen Grunzen des Behandelten. Kampfer und Menthol dringen in jeden Winkel des Zimmers, übertönen die anderen unvermeidlichen Gerüche. Die Jungenhand gleitet 1über den welken Rücken. Dunkelbraune, erhabene Leberflecken, schwarzkuppig geweitete Talgporen. Nichts davon kann Jakob ekeln. Zu viele Geschichten hatte der Opa ihm erzählt, zu viele Brote geschnitten und geschmiert, ihnen seine verblassten Tätowierungen erklärt, zu viele Kackewitze verbinden sie. Zu oft hatte er mit ihnen in die Oder und hier in die Itz gespuckt.
Einmal in der Woche Schwester Felizia von Sankt Augustin.
Schlimmster Tag. Erleichterung, wenn die Enkel dabei sind, sich nicht von ihrer ruppigen Art vertreiben lassen. Die ewig unbenutzten Muskeln haben den Körper verlassen. An Brust, Armen, Beinen überflüssige Welkhaut faltig und hängig. JESUSMARIAUNDJOSEF. Unter Jammern wird er auf den Bauch gewendet. Der wund gelegene, knochige Hintern ein rot glänzendes Stück Fleisch. Nässend. Randgrindig. Und dann seine Angst. Der Drachen in Schwesternhaube wird es sehen, sein graues, zwergiges Ding zwischen den Schenkeln. Grob mit Seifenlappen und Handtuch darüber fahren.
Aus dem sommerlich geöffneten Fenster beobachtet Jakob einen Ami-Aufklärer, der in ungewohntem Tiefflug über der Stadt kreist, sagt dem ausgekleideten Skelett seines Opas hinter sich, dass die Amis weiße Sterne auf den Flugzeugen haben.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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