Roman „Sonntagsschüsse II“ von Jonas Philipps: „FSV Eggenheim – TSV Weiherfelden (1. Spieltag)“
Der Rest der Vorbereitung verlief glänzend. Bis auf den Ausrutscher in Dreientor hatte unsere Mannschaft mit klaren Siegen gegen stark eingeschätzte Gegner von sich reden gemacht. Bei einer Umfrage unter den Spielleitern aller fünfzehn Mannschaften der Kreisklasse Nord in der regionalen Tageszeitung waren wir somit eine von fünf Mannschaften, die als Favoriten gehandelt wurden.
Der erste Spieltag beim FSV Eggenheim war die Stunde der Wahrheit. Wir kannten den Gegner. Es war ein alter Bekannter in der Kreisklasse Nord. Sie hatten den Rennelefanten in ihren Reihen. Doch ansonsten war die Mannschaft nur Durchschnitt. Jeder erwartete drei Punkte von uns.
Dennoch schwebte die peinliche Torflaute gegen die DJK Dreientor wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen. Der neue Trainer wollte vorbeugen, um zu vermeiden, dass wir auch am 1. Spieltag erfolglos gegen ein Abwehrbollwerk anrannten. Seine Nervosität führte zu ungewöhnlichen Trainingsmaßnahmen.
„Was uns vor dem Tor fehlt, ist Selbstvertrauen! Es ist keiner von euch dabei, der es fußballerisch nicht fertig bringt, den Ball aus fünf Metern Entfernung im leeren Tor unterzubringen. Aber trotzdem ist uns das gegen Dreientor nicht gelungen! Wir dürfen beste Chancen nicht achtlos liegen lassen! Das ist fahrlässig, und so verschenken wir unnötig Punkte. Das müssen wir verbessern!“
Karl hatte sich deshalb für das Abschlusstraining vor dem Saisonauftakt eine Maßnahme überlegt, unser Selbstvertrauen vor dem Tor zu steigern und die Erfahrung im Umgang mit klaren Torchancen zu erhöhen. Wir Feldspieler fanden diese Übung cool. Es machte so richtig Spaß.
Nur unsere armen Torhüter waren alles andere als begeistert. Andreas Stieler schimpfte wie ein Rohrspatz. Sein junger Herausforderer Alfred Escher traute sich nichts zu sagen, schüttelte aber skeptisch und resigniert den Kopf. Denn diesmal wurden die Reflexe unserer Torwarte auf eine ungewöhnliche Art getestet. Es kam nicht mehr so sehr darauf an, die Bälle zu halten. Vielmehr wurden die Reflexe dazu benötigt, den Kopf rechtzeitig aus der Schusslinie zu bekommen.
Der Trainer hatte Volleyschießen aus fünf Metern Entfernung angeordnet. Das spielte sich in etwa so ab: Torwart Andreas stand mit schlotternden Knien in seinem Kasten. Trainer Karl positionierte sich mit einem Haufen Fußbällen neben dem Pfosten. Und wir Spieler stellten uns in Reih und Glied am Fünfmeterraum auf, der, wie der Name schon sagt, nur fünf Meter von der Torlinie entfernt ist. Dann warf der Coach uns die Bälle halbhoch zu, und wir hatten die lustige Aufgabe, die Kugel aus der Luft abzufassen und mit aller Gewalt in Richtung Tor zu hämmern.
Andreas und Alfred versuchten erst gar nicht, diese Schüsse zu parieren. Die Armen hatten viel mehr damit zu tun, nicht von den Schüssen zwischen die Beine, ins Gesicht oder in den Bauch getroffen zu werden. In den folgenden fünfzehn Minuten hauten wir Andreas und Alfred die Bälle regelrecht um die Ohren. Bei jedem Schuss, der unser Rumpelstilzchen auch nur streifte, stapfte Andreas wild schnaubend, schimpfend und unseren Coach verfluchend auf seiner Torlinie herum. Aber es half alles nichts. Trainer Karl war gnadenlos. Ob wir uns dadurch wirklich Selbstvertrauen holten, kann ich bis heute nicht sagen, aber allen bis auf die bemitleidenswerten Torhüter hatte es zumindest höllischen Spaß gemacht.
„Heute zählt es, Jungs“, begann Karl am folgenden Sonntag seine erste Punktspielansprache in der Kabine. „Wir haben gut gearbeitet. Jetzt müssen wir die Früchte unserer Arbeit ernten. Ich kenne diesen Gegner nicht, habe lediglich von Willi gehört, dass sie einen schnellen, robusten Angreifer haben. Dominik, um dem kümmerst du dich bitte. Martin, du hältst dich von ihm fern! Vor allem im Strafraum. Keine unnötigen Fouls.“
Wir grinsten hinter vorgehaltenen Händen. Mit Martin würde Karl sicher noch seinen Spaß haben.
„Das ist unsere Startelf: Andi, du stehst im Tor. Wie spielen wie in der Vorbereitung mit Viererkette: Harald als rechter Außenverteidiger, Niklas als linker Außenverteidiger. Dominik und Martin in der Innenverteidigung. Auf der Sechs: Marco. Rechter Flügel: Georg. Linker Flügel: Kevin. Macht ihnen über die Außen die Hölle heiß!“
Karl schritt zur Taktiktafel an der Wand und schob einige Magneten hin und her. „Wenn die Außenverteidiger nach vorne ziehen, lasst euch in die Viererkette fallen. Wir wollen kein Risiko eingehen, früh in Rückstand zu geraten. Ganz vorn in der Mittelfeldraute werde ich spielen. Stefan und Michael sind die beiden Stürmer. Ich erwarte, dass wir das Spiel kontrollieren. Keine leichtfertigen Ballverluste! Disziplin, die Positionen halten, viel Laufarbeit und Bewegung. Wenn wir unser volles Potenzial ausschöpfen, haben wir hier nichts zu befürchten. Auf geht’s. Macht euch warm und konzentriert euch!“
Wir machten ein gutes Spiel. Schnell führten wir 2-0. Durch einen leichtsinnigen Fehlpass in der Abwehr kam Eggenheim zwar kurzzeitig auf 1-2 heran, aber wir ließen uns davon nicht aus der Ruhe bringen. Die Erfahrung von Georg und Karl tat uns sichtlich gut. Doch es war der Jüngste im Kader, der das Schicksal der Gastgeber besiegelte. Kevin Mai erzielte kurz nach dem Anschlusstreffer das 3-1. Es war sein dritter Treffer an jenem Tag. Nach dem Spiel tranken wir genüsslich zwei Bier im Eggenheimer Sportheim auf unseren Sieg. Ein 3-1 zum Auftakt war ein gutes Ergebnis. Vor allem auswärts. Es gab uns Sicherheit. Und der dreifache Torschütze Kevin Mai strotzte nur so vor Selbstbewusstsein.
„Ronaldo!“, rief Niklas überschwänglich und streckte Kevin feierlich sein Glas entgegen. Tatsächlich hatte uns Kevin an diesem Tag an den jungen Cristiano Ronaldo erinnert: pfeilschnell, trickreich und mit einem bärenstarken Torabschluss. „Ronaldo“, prosteten wir ihm immer wieder zu. Nach dem zweiten Bier stimmte Kevin endlich in die Rufe mit ein.
Im Sportheim in Weiherfelden sollte die Feier weitergehen. Es herrschte eine riesige Euphorie. Viele Zuschauer saßen bereits im Sportheim, als wir wie die Könige in den Wirtschaftsraum einzogen. „Ronaldo!“, brüllten wir immer wieder aus Leibeskräften. Das Bier floss in Strömen. Und nach einigen weiteren Gläsern war Kevin, der auf dem Platz nur so vor Kraft und Energie strotzte, nur noch ein Häuflein Elend.
„Raldo!“, lallte er immer wieder. Denn Ronaldo konnte er nicht mehr aussprechen. Und so sollte ihm der Spitzname Raldo von jenem Tag an Zeit seines Lebens bleiben.
Die Feierlichkeiten zu unserem ersten Saisonsieg wurden immer ausschweifender. Ein alter Mannschaftskollege saß mit am Tisch: Bernd Hagen. Er hatte seine Karriere im Alter von 27 Jahren beendet. Für die Altherrenmannschaft war er zu jung, für die erste Mannschaft in unserer neuen Besetzung zu langsam. Dabei war er so ein genialer Fußballer. Was für eine Verschwendung! Aber er hatte sich schon an seine neue Rolle gewöhnt: der nächste Klugscheißer am Spielfeldrand.
„In eurer neuen Mannschaft ist schon ganz schön Tempo drin, das muss ich sagen. Aber die Technik ist euch aweng abhandengekommen. Nur Rennen bringt halt auch nichts! Man muss auch was mit dem Ball anzufangen wissen. So wie ich früher! Bei so vielen guten Chancen hättet ihr doch mindestens fünf oder sechs Tore machen müssen. Leichtfertig umgegangen seid ihr damit. Die Technik macht’s, das sag ich euch!“
Wir blickten uns an und rollten mit den Augen. Er war schon beinahe so schlimm wie die alteingesessenen Legenden am Biertisch nach den samstäglichen Bundesligaspielen. Man musste sich fragen, ob er wirklich seine Fußballschuhe oder nicht vielmehr seinen Realismus an den Nagel gehängt hatte. Aber auf einen hanebüchenen Experten mehr oder weniger kam es in Weiherfelden nicht an. Die hatten wir zur Genüge.
Man hörte unseren frischgebackenen Ehrenspielführer Regisseur lautstark am Nachbartisch plärren: „Ich hab’s euch gleich gesagt: Man darf wegen eines verlorenen Pokalspiels nicht in Panik verfallen. Man muss einem neuen Trainer erst die Zeit geben, die er verdient. Und heute hat es der Karl bestätigt. Totgesagte leben länger! Ich hab’s schon immer gesagt. Aber keiner hört ja auf mich!“ So der Regisseur, der Karl Adler vor drei Wochen noch vor dem ersten Punktspiel mit Schimpf und Schande vom Hof jagen wollte. Nicht zu fassen!
Aber nach einem Auftaktsieg interessierte uns der Wahnsinn der Zuschauer nicht weiter. Wir sorgten dafür, dass der Don am Zapfhahn keine ruhige Minute hatte. Ein Bier folgte dem anderen, heisere Raldo-Rufe hallten durch das Sportheim. Und ehe wir uns versahen, war es bereits Mitternacht. Sorgenvoll blickte ich auf die Sportheimuhr. Annika würde mich erschlagen!
Und für den Fall, dass ich diese Nacht überlebte, wartete, wie immer wenn man spät ins Bett ging, schon früh um 6 Uhr ein kleiner Zwerg neben unserem Bett und wollte bespaßt werden. Seufzend trank ich mein Bier in einem großen Zug leer. Die anderen Mitglieder des harten Kerns musterten mich ungläubig: „Entweder du hast einen fulminanten Durst, oder du willst dich abseilen, Marco.“ Die vorwurfsvollen Blicke brachten mich völlig aus dem Konzept.
In Weiherfelden wehrte man sich nicht lange, wenn es darum ging, sich noch ein Bier zu holen. „Ach komm, Don. Eins wird schon noch gehen.“
Während der Don mir das nächste Bier einschenkte, schalteten meine Kollegen den Fernseher an. Es kam gerade Werbung: für Telefonsexnummern.
„Da wollte ich schon immer mal anrufen“, murmelte Niklas mehr zu sich selbst.
Der Rest der volltrunkenen Bande betrachtete ihn mit einem amüsierten Seitenblick: „Kennst du denn keine anderen Möglichkeiten, dich aufzugeilen?“
„Schon, aber es würde mich einfach mal interessieren. Was die so erzählen, wie lange sie einen hinhalten, wie dominant ihre Stimmen klingen … Nur für die Forschung, du weißt schon …“
Wir schüttelten einfach nur den Kopf und widmeten uns wieder den schäumenden Getränken.
„Scheiß drauf! Ich probier das jetzt mal aus.“ Niklas tippte die nächstbeste Nummer in sein Telefon ein und lauschte der lasziven Stimme.
„Naja, eigentlich … Interessieren würde mich das auch mal. Ich ruf mal eine andere Nummer an. Dann können wir unseren Erfahrungsbericht vergleichen“, meinte Max kurzentschlossen. Niklas und ihn sollte man nie gemeinsam in einem Raum lassen. Selten kam etwas Gescheites dabei heraus.
Und wie so oft ließen sich die Mannschaftskollegen von diesem Schwachsinn mitreißen. Die groteske Szene entwickelte eine seltsame Eigendynamik. Einer nach dem anderen zückte sein Handy und machte einen Testanruf bei der nächsten Nummer in der Werbung. Als ich der einzig verbliebene Spieler ohne Telefon am Ohr war, wurde mir dann doch etwas mulmig zumute. Insbesondere unter dem Einfluss von Bier war Gruppenzwang eine sehr gefährliche Angelegenheit.
Grummelnd zückte auch ich mein Handy und machte bei der blödsinnigen Aktion mit. Die Frau am anderen Ende des Telefons war weder freundlich, noch versprühte ihre Stimme eine erotische Ausstrahlung. Sie versuchte kläglich, zwanzig Jahre jünger zu klingen als sie vermutlich in Wirklichkeit war, und irgendwann legte ich gelangweilt auf.
Da war mir meine Annika zuhause tausendmal lieber. Auch wenn sie mich heute Nacht noch zur Sau machen würde, wenn ich so spät und in diesem Zustand im Bett aufschlug.
Sonntagsschüsse II – Das Bierdeckel-Dilemma
Nun beginnt also die zweite Reise des jungen Fußballers Marco Tanner über die zuweilen holprigen Fußballplätze der Fränkischen Schweiz. Die Leser erwarten urige Handwerker, ein wahnwitziger Heiratsantrag, ein verhängnisvoller Bierdeckel, ein folgenschwerer Anruf, legendäre Neuzugänge und vieles mehr. Wird dem TSV Weiherfelden der ersehnte Aufstieg gelingen? Die 332 witzigen Seiten werden es beantworten. Alle Sonntagsschüsse
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Über den Autor
Jonas Philipps lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen im Landkreis Bamberg. Er schreibt unterhaltsame Romane über Sport und Musik. Aus vielen Ideen und zahlreichen Gedanken zu seiner Vergangenheit als Amateurkicker und Bandmitglied entstehen witzige Romane, die Lesespaß garantieren. Homepage: www.jonas-philipps.de
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