Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 42
Romanepisoden von Joachim Kortner
Madame Claudette
Das Schützenfest auf dem Anger und der Hochsommer haben die Stadt in ihren Schwitzkasten genommen. Noch am Vorabend hatte es für die Schausteller beinahe hoffnungslos ausgesehen.
Das Abendgewitter hatte alle von den Aufbauarbeiten in ihre Wohnwagen gescheucht. Zeltbahnen waren wie Papierfetzen durch die Luft geflogen und auf dem Fußballrasen das nahen Sportplatzes gelandet. Der Sturm hatte einen Auto – Scooter vom Transporter kippen lassen und eine nagelneue Fischbrötchenbude auf den Rücken gelegt.
Doch am nächsten Morgen strahlt die Sommersonne wieder vom tiefblauen Himmel. Mit nackten Oberkörpern machen sich jetzt Budenbesitzer und Schausteller an die Reparaturarbeiten und beenden die Vorbereitungen, die das Unwetter unterbrochen hatte.
*
Den Nachmittag hat die Jungenclique zwischen Chlorwasser und Liegewiese verbracht. Am Abend wollen sie als Horde zum Anger ziehen. Wollen wieder sehen, wie das geheimnisvolle Gewebe der rosa Zuckerwatte entsteht, sich vielleicht zu zweit eine Fünfzig-Gramm-Tüte mit gebrannten Mandeln gönnen, am Auto – Scooter stehen und dabei die Gesichter der Leute beim Aufeinanderprallen beobachten. Sich amüsieren, wenn Erwachsene bei der Schießbude mit verstellten Gewehrläufen daneben schießen, ratterndes Getöse der Achterbahnwagen in Sturzfahrt und die spitzen Schreie der Insassen genießen. Das silberne Geldstück im sicheren Reißverschlusstäschchen des Lederhosenträgers.
*
Inzwischen ist die Badeclique im Gewühl zerfleddert worden.
Jakob hat jetzt sogar seinen Bruder aus den Augen verloren. Zuletzt hatte er ihn noch mit dieser Nulpe Norbert gesehen. Der will den Weibern im Bad immer mit seinen Flickflacks imponieren.
Eine Schaubude, die sie im letzten Jahr hier noch nicht gesehen hatten. Der Mann in Frack und Zylinder hält ein riesiges Mikrofon in der Hand. Er hat es mit seinem Taschentuch umwickelt und müht sich, gegen Die Fischerin vom Bodensee aus dem Bierzelt und das Schlagergewirr der Konkurrenzlautsprecher anzukommen.
Mit einladenden Gesten bittet er das Publikum, doch etwas näher heranzukommen. Was er zu sagen habe, sei nicht für jedermanns Ohren bestimmt. So etwas sei für die Stadt eine echte Sensation. Schließlich sei Madame Claudette keine Frau wie jede andere. Auch mit ihren weiblichen Reizen würde sie nicht sparsam umgehen. Irgendetwas von Strumpfband. Aus rechtlichen Gründen könne er hier verständlicherweise keine Kostprobe geben. Das sei für heute Madame Claudettes vorletzte Darbietung.
Die Zuhörertraube bewegt sich auf das Kassenhäuschen zu.
Um zehn Uhr ist für Jakob Zapfenstreich.
Er sieht einen Mann, der am Handgelenk eine Uhr trägt und fragt nach der Zeit.
In der Goethestraße trifft er seinen Bruder. Ihre Schritte werden weiter und hastiger. Im Keuchen erzählt er ihm von dieser französischen Madame und dass die halb nackt sein müsste. Sogar ihre Strumpfbänder könne man sehen. Andi ist der Meinung, dass da sowieso nur richtige Erwachsene hinein dürfen.
An der elektrischen Uhr beim Juwelier in der Mohrenstraße sehen sie mit Schrecken, dass sie erst fünf nach zehn heimkommen werden. Gott sei Dank sitzen die Eltern im Dunklen, starren auf das magische grüne Auge des Radioapparats, sind in ihr Hörspiel vertieft. PST.
In der Wohnküche legen sich die Brüder Kissen unter die Ellenbogen und betrachten das ferne Schauspiel des Wetterleuchtens, das sich donnerlos hinter der Burg abspielt. Die vertrauten Umrisse der Festung zucken als schwarzer Scherenschnitt vor dem lautlosen Lichtspektakel auf. Aber schon drängen sich in diesen abendlichen Stummfilm dumpfes Grollen, bald auch splitterndes Krachen. Nach einem Blitzeinschlag in blind machendem Rosa fällt die Straßenbeleuchtung aus. Ehe sie es verhindern können, sind Mamas rote Pelargonien auf dem Fenstersims von wütendem Hagel zerhackt und durchlöchert. Hoffentlich ist Madame Claudette nichts passiert.
Jetzt erfasst der Sturm die Stadt mit Macht. Ein Riesenast der Hofkastanie der Pferdemetzgerei kracht über den Zaun auf die Straße. Aber so überraschend, wie der Sturm über die Stadt hergefallen war, so kläglich hat er von ihr abgelassen. Regenwasser quillt und tröpfelt jetzt nur noch aus den übervollen Dachrinnen.
Inzwischen sind unten auf der Straße Lichtkegel verschiedener Taschenlampen aufgeflackert. Ein paar Größere mit Stimmbruch wippen auf dem ausgerissenen Arm des Baumriesen herum.
Wenn so ein Ast auf Madame Claudettes Wohnwagen gefallen war – nicht auszudenken. Beim Zähneputzen wird ihm klar, dass er sich gleich morgen Gewissheit verschaffen muss.
*
Im Traum sieht er sie in dem gleichen wunderschönen, strahlend blauen Kleid, das die Frau vom Bundespräsidenten auf einer Illustriertenseite getragen hatte.
Sie nimmt ihn mit in ihren Wohnwagen.
Sie spricht Französisch, aber er versteht alles.
Er schenkt ihr den Magneten mit feinem Kupferdraht, den er mal aus einem kaputten Fahrraddynamo ausgebaut hat. Daraus soll sie sich einen Blitzableiter für ihren Wohnwagen machen.
Madame Claudette versteht auch seine deutschen Gedanken. Er braucht nicht zu sprechen.
*
Gleich nach dem Gottesdienst fährt er zum Anger. Die Buden, 1 Zelte und die großen Schaustellerbetriebe sind noch geschlossen.
Nur die riesigen Pfützen erinnern an das Unwetter in der Nacht. Madame Claudette hat die Rollläden an ihrem Wohnwagen herunter gelassen. Planen, Wagendächer und der nasse Angergrund dampfen unter der harten Sonne. Auf der überdachten Vortreppe vom Auto Scooter hocken Schaustellergehilfen mit nacktem Oberkörper, qualmen Selbstgedrehte, zeigen einander ihre Tätowierungen, machen Muskeln, trinken aus der Flasche.
Jakob spürt, dass er in eine fremde Welt eingedrungen ist. Er muss später hierher zurückkommen, wenn die Städter wieder die Besitzer des Angers sind.
Als er am frühen Nachmittag erscheint, sind Buden und Fahrgeschäfte einsatzbereit. Lautsprecher plärren und dudeln durcheinander.
Er lässt den Riegel vom Speichenschloss einschnappen und lehnt sein Rad an die Außenwand der Turnhalle. Vorbei am Imbiss mit den Lachsersatz-Brötchen geht er zielbewusst zu Madame Claudette. Vom Mann mit dem umwickelten Mikrofon ist nichts zu sehen. Auch ein Verbotsschild für Kinder und Jugendliche kann er nicht entdecken. Er dreht sich nach allen Seiten um, ersteigt die Holztreppe zur Kasse, stellt sich auf die Zehenspitzen, legt sein Markstück auf den Drehteller und nimmt sich die gelbe Eintrittskarte. Dann drückt er eine Pendeltür auf. Ein leeres, längliches Zelt mit gelb-rot gestreiftem Dach. Am anderen Ende sitzt auf einer flachen Bühne eine Frau. Sie trägt ein knöchellanges, grünes Kleid.
Er wartet. Die Frau sagt nichts und tut nichts. Sitzt nur da und blickt geradeaus. Einen Moment lang kommt ihm der Gedanke, dass es eine große Puppe ist. Zögernd geht er auf dem Bretterboden bis zur Bühne. Madame Claudette ist stark gepudert und geschminkt. Wo einmal ihre Augenbrauen waren, hat sie einen schwarzen Strich auf der Haut. Das Haar steht ihr perückensteif vom Kopf weg. Jeder pralle Finger ihrer fleischigen Hände trägt einen Ring.
Neben ihr ein Stativ mit einem Schild. Darauf ihr Name Madame Claudette und ihr Gewicht dreihundertfünfzig Kilogramm.
Und dass sie die dickste Frau der Welt ist. Er sieht die Dreierreihe der Fettschürzen unter dem hauteng anliegenden Kleid. Er hofft, dass ihn endlich andere Zuschauer in dem brutheißen Zelt ablösen werden. Niemand kommt.
Sie sind miteinander allein. Madame Claudette versucht, in ihrem Sessel eine andere Sitzhaltung einzunehmen. Sie ächzt.
Er steht sehr nahe.
Er sieht feine Schweißperlen durch ihre Schminkschicht dringen.
Er sieht, dass sie keine Madame Claudette ist.
Er erkennt, dass sie ein kranker Mensch ist.
Ihre ringgespickten Hände ziehen das Kleid einseitig hoch, legen einen gewaltigen, breiig schwabbeligen Oberschenkel frei.
An der Stelle seines größten Umfangs schnürt ein schwarzes Strumpfband mit kleiner Schleife in das wellige Fleisch ein. Dabei blickt sie in eine andere Richtung, prüft nicht die Wirkung ihres Entblößens. Er flüchtet sich in ein hilfloses Guten Tag. Sie antwortet nicht. Nicht einmal mit einem Nicken oder Lächeln.
Mehr kann er nicht ertragen. Er verdrückt sich in Richtung Ausgang, hat bis zum letzten Meter Angst, sie würde ihm noch etwas hinterher rufen.
Sein Fahrrad an der Ziegelsteinwand der alten Turnhalle. Er streift sich die Schnur mit dem Schlüssel vom Hals.
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