„Reich durch Ringelnatz“, die etwas andere Autorenlesung im Jungen Theater Forchheim
Literatur, Lärm und Licht
Erstaunen beim Publikum, als es den Saal des jungen Theaters betritt: zwischen Bühne und Zuschauerraum sind weiße Kartons zu einer Mauer aufgestapelt, auf die ein Film mit Szenen aus den 1920er Jahren projiziert wird. Rechts der Bühne befindet sich ein Wohnzimmerambiente mit Stehlampe, Röhrenradio und anderen antiken Accessoires. Sendersuchgeräusche sind zu hören, dann erklingt eine Stimme, welche die Lebensgeschichte von Joachim Ringelnatz kurz umreißt. Das Radio wird mit einem lauten Klacken ausgeschaltet und das durch Fenster in der Mauer teilweise sichtbare Golden Deutsch Trio beginnt mit der „Deutschen Sommernacht“. Es folgen weitere Gedichte, in denen Joachim Ringelnatz die Innovationen, aber auch das Elend und die Verwirrung der 1920er Jahre beschreibt. Das Ganze unterlegt und verstärkt durch die durch sämtliche Stilrichtungen mäandernde Musik des Golden Deutsch Trio, sowie die äußerst stimmungsvolle Beleuchtung.
Nach und nach wird die Sicht auf die Musiker freigegeben, die Kisten wandern an den hinteren Bühnenrand, bilden dort zunächst eine Plakatwand, zum Gedicht „Reklame“ wird ein Werbeplakat für „Bettnässerpillen vorzüglicher Qualität“ aufgehängt. Aus der Reklametafel wird ein Tor mit der gleichermaßen leuchtenden wie rätselhaften Inschrift „SINN“, auf der anderen Bühnenseite wird eine nackte Frau als Strichzeichnung auf den Kisten sichtbar.
Auch wenn in diesem Teil eher der „ernste“ Ringelnatz im Vordergrund steht, bricht doch immer wieder ein schalkhafter Humor durch: zu den „Flugzeuggedanken“ und dem „Einsamen Spazierflug“ (in denen Suizidgedanken thematisiert werden) veranstalten Golden Deutsch Trio eine Publikums-Challenge mit Papierfliegern. Auch seine sehr anrührenden Liebesgedichte werden sowohl durch Ringelnatz‘ ganz eigene schrägen Ideenbrüche, aber auch mit den musikalischen Gegenentwürfen des Golden Deutsch Trio unterminiert/konterkariert, so dass einem zu großen Pathos kein Raum bleibt.
Zur Verdeutlichung der musikalischen und textlichen Verschränktheit möchte ich die „Ansprache an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument“ etwas ausführlicher besprechen: Dabei glänzt der ohnehin eher einem Orchesterschlagzeuger ähnelnde Bernhard Wilhelm an den Kastagnetten, dazu spielt der Gastakkordeonist Linhard Schürer eine seemannskneipenhaftige Version von „La Paloma“, während Jott Gutschmann das Verlobungsgedicht von Joachim Ringelnatz an seine spätere Frau performt. In diesem geht es um die Begegnung des Ich-Erzählers mit einer Prostituierten in besagter Seemannskneipe mit anschließendem Spaziergang, während dessen der deutlich alkoholisierte Ich-Erzähler die geschäftlichen Rahmenbedingungen für die folgende Nacht zu klären versucht. Das Ganze wird musikalisch von einer an Kraftwerk und Steve Hillage erinnernden Sequenzermelodie von Alex Dittrich getragen, gegen Ende nimmt der Bassist Gerhard Streit das „Paloma“-Thema in düster-dissonanter Weise auf, als der zu Beginn noch so unternehmungslustige Seemann seiner Begleitung von seinen Traumata erzählt.
Nach dem durch punkig-kernige Gitarrenakkorde aufgelockerten „Ich habe Dich so lieb“, das noch mit einem „Oh Du lieber Augustin“-Zitat verdreht wird, geht es in die Pause.
Vor einer nochmals umgestalteten Bühne mit einem überdimensionalen aus den Kartons gestalteten „DADA“-Schriftzug beginnt der letzte Teil mit den „Kindergedichten“ von Joachim Ringelnatz. Diese stellen Ringelnatz‘ anarchisch-derben Witz in den Vordergrund. Dem entsprechend ergeht sich das Golden Deutsch Trio in fröhlichen Interpretationen zwischen Pop, Kammermusik und Metal, lässt die Musik auseinanderfallen und setzt sie neu zusammen. Martin Wohlleib gelingt dazu eine Lichtmagie, die die Bühne größer als den Zuschauerraum wirken lässt. Der Spaß der Musiker an ihrem Treiben ist deutlich sichtbar und überträgt sich auf das Publikum. Beim letzten Stück, bei dem als Gast Caesar Kronmüller an der kasachischen Kurzklarinette mitwirkt, wird das Publikum noch Zeuge einer „Streitigkeit“ zwischen den Musikern, erklatscht sich aber nichtsdestotrotz zwei Zugaben.
Somit endet ein an Geschichten, Bildern und Farben reicher Abend, der nur die Frage offenlässt, ob dies nun eine Lesung, ein Konzert, beides oder einfach nur Kunst war.
Die Website des Projektes: https://www.golden-deutsch.de
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