Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 38

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Wohin fährt der Jankowsky?

Die meisten hatten gesehen, wie Roland das Muskelpaket den Jankowsky hochgehoben und auf die Straße geschmissen hatte.

Einige glauben auch noch gehört zu haben, dass der Athlet ihm gedroht hatte, er würde ihn totschlagen, wenn er seinem Bruder Jakob etwas täte. Eine elende, feige Sau sei er, der sich nur an Kindern vergreife. Seit der Zeit wagt sich der Jankowsky nicht mehr in die Raststraße, schon gar nicht in die Sackgasse, wo immer noch gequatscht und gespielt wird.

Der starke Klaus ist ihm schon mal nach gefahren, hat ihn über die Kasernenstraße verfolgt und dann nur noch gesehen, wie er über die Bahngeleise in Richtung Zonengrenze abgebogen war.

Dann hatte der starke Klaus aufgegeben.

Die Kette war ihm abgegangen.

*

Jetzt, nach seiner Entmachtung, ist er zwar nicht mehr bedrohlich, ist aber zu einer geheimnisumwitterten, fast zaubermächtigen Figur geworden. Keiner hat auch nur eine Ahnung, wohin der täglich mit dem blauen NSU-Rad fährt. Jakob fürchtet ihn nach wie vor, ist sich gewiss, dass der weit weg von der Stadt an irgendeinem Mordplan arbeitet, vielleicht an einer tödlichen Falle bastelt. Die könnte er ja dann auf dem Hohenfels oder im Callenberger Forst vergraben. Man tritt darauf, eine Falltür öffnet und schließt sich. Niemand wird einen finden. Und die Kripo kann ihm nichts beweisen. Genau so gut könnte er einen Stolperdraht ziehen, daran eine Pistole im Gebüsch festbinden und man würde sich selbst erschießen. Roland, sein Muskelbruder, würde ihm auch nicht mehr helfen können. Wenn er nicht einschlafen kann, tauchen diese Angstbilder als greifbare Wirklichkeit auf. Inzwischen bereut er sogar seinen wuchtigen Faustschlag an den Kiefer von dem Jankowsky. Hätte er sich doch nach dem Tritt in die Eier nicht mehr gerächt, dann brauchte er jetzt nicht so jung zu sterben.

*

Der starke Klaus hat wieder etwas Neues über den Jankowsky herausgekriegt. Die Quelle will er nicht nennen. Er hatte da angeblich irgendeiner Person sein Ehrenwort gegeben. Es soll eine richtige Expedition werden. Das sei absolut keine Fahrradtour.

Eine saugefährliche Sache könne das werden. Wer bei jedem Scheißdreck die Hose voll hat, der soll sowieso zu Hause bleiben.

Jakob ölt erst einmal die Nippel seines Freilaufs, des Tretlagers und die Vorderradnabe. Das Nähmaschinenöl seiner Mutter tropft auf die Straße.

Den Rest einer tarngefleckten Wehrmachtszeltplane klemmt er auf den Träger. Zwischen Hinterradgabel und Schutzblech zwängt er ein Gummistück, weil es sonst immer so verräterisch klappert. Sein Bruder Andi vertraut allein seiner Schießkunst.

Die Gummischleuder, die er sich aus zwei Streifen eines schwarzen Autoschlauchs und einem Fleckchen Rindsleder gebaut hat, ist ein Teil von ihm geworden. Die Geschosse sind geachtet und gefürchtet. Dafür ist er extra mit Jakob nach Weidach zum Hufschmied geradelt, hat sich dort eine Menge von gezogenen Hufnägeln besorgt, ihnen mit der Zange die Spitzen abgezwickt.

Wenn diese rostbraunen, kantigen Nagelkuppen durch das Ypsilon seiner Fliederholzgabel katapultiert werden, verfehlen sie nur selten ihr Ziel. Nie hätte er damit jemanden angegriffen.

Wäre er aber selbst oder sein Bruder in arge Bedrängnis geraten, er hätte nicht gezögert, von seiner Schießkunst Gebrauch zu machen. Der starke Klaus hat sich seinen Hirschfänger mit der langen Klinge umgeschnallt. Einen kleinen, grünen Ami- Kompass lässt er auch noch in die Satteltasche gleiten. Er führt das Dreimannunternehmen an. Die geheimen Informationen über den Jankowsky hat schließlich er.

Die Stadt lichtet sich allmählich. Sie biegen ab in den Lautergrund und fahren über Bahngeleise. Jakob ärgert sich, weil sein Schutzblech immer noch klappert. In Unterlauter dreht sich der starke Klaus um, macht mit der freien Hand eine Bewegung, spricht mit weit aufgerissenem Mund stumme Worte. Einige Sekunden später sehen sie, was er gemeint hat. Vor einer Metzgerei steht das blaue Fahrrad vom Jankowsky. Er hat es mit dem Pedal auf den Rinnstein gestellt. Sie wenden und verstecken sich hinter dem Pannen-LKW, der am Straßenrand aufgebockt steht. Jakob fühlt seine Halsader. Da kommt der Jankowsky aus dem Laden heraus. Er hält eine Leberkässemmel in der Hand, beginnt gleich zu fressen. Zuerst die überhängenden Stücke. Jedes Mal, wenn er hinein beißt, beugt er sich weit nach vorne, um sich nicht zu bekleckern.

Der Jankowsky hat was zum Fressen und er nicht. Und diese Drecksau hatte ihm damals einen Knietritt in die Eier gegeben.

Jetzt ist er wieder stolz auf seinen Faustschlag gegen den Unterkiefer.

Der Jankowsky geht auf die andere Straßenseite und verschwindet in einer Gastwirtschaft. Der starke Klaus fährt los. Die Brüder folgen. In dem Wäldchen am Hang wollen sie sich auf die Lauer legen, die Dorfstraße beobachten. Der kann ja da drin nicht ewig vor seinem Bier hocken. Jakob hat die erste Wache zu übernehmen. Er legt sich auf dem Bauch ins hohe Gras.

Die Gastwirtschaft und das Rad kann er klar erkennen. Das sind doch höchstens zwei Steinwürfe bis dort hinunter. Der starke Klaus geht mit Andi etwas weiter in das Fichtenwäldchen hinein.

Schon nach kurzer Zeit hört er den kurzen, spitzen Komm-Pfiff vom Klaus. Er dreht sich aus seiner Lauerstellung um. Die Beiden winken ihn herbei, deuten dann stolz auf ihre Entdeckung.

Auf einem rostigen, toten Eisenbahngleis steht ein dunkelgrüner Eisenbahnwagon der dritten Klasse mit dem roten RAUCHER. Jemand hat einen Fichtenast mit einem Seil so weit vom Baum über das Gleis gebogen, dass der Wagon fast unsichtbar ist. Ein Eisenbahnwagon mitten im Fichtenwald, da hat sich ihre Expedition allein schon gelohnt. Eine Wäscheschnur ist vom Haltegriff der Eingangstür zur nächsten Fichte gespannt.

Darauf hängt eine dünne Decke im Schottenmuster zum Trocknen.

Sie hat kleine Brandlöcher.

Der Jankowsky hatte früher im Freibad auch so eine mit Brandlöchern gehabt. Von seinem vielen Gequalme. Der starke Klaus hat sich am schnellsten gefasst.

Das Schwein wohnt hier.

Er zieht den Hirschfänger, kappt das Wäscheseil mit der Brandlöcherdecke, schwingt sich am Haltegriff auf die Plattform und öffnet die Wagontür. Jakob und Andi steigen nach. Sie flüstern.

Der Jankowsky hat den alten Wagon in ein Wohnzimmer verwandelt.

Sitzbänke hat er abgeschraubt und an ihre Stelle alte Sofas gestellt. Vier Säulen aus bläulich schimmernden Klinkersteinen bilden die Beine eines Teetischchens. An den Gepäckhaltern hängen Straßenlaternen mit Petroleumtanks. Kerzenstummel haben ihr buntes Wachs in alle Winkel und Ecken fließen lassen. Geklebte Springrollos hat er mit Krammen in die Holzverkleidung gerammt, um Sichtschutz zu haben. Regale voller Tassen, angesplitterter Gläser und gesprungener Teller mit Wachstuch verkleidet. Verbeulte Aluminiumtöpfe und ein Spirituskocher sind Jankowskys Küche. Im langen Mittelgang dämpfen aneinander gereihte Fußabstreifer den Tritt. Bilder von Filmstars und alte, braungetönte Fotos lächeln angezweckt von den Wänden. Im hinteren Teil des Wagons hat sich der Jankowsky sein Schlafzimmer eingerichtet. Drei blau-weiß gestreifte Matratzen und einen Kopfkeil hat er in einen Bretterrahmen gefasst.

Da steht auch ein Kanonenöfchen, dessen Rauchrohr er durch das Schiebefenster geführt hat. Unter einer Wolldecke versteckt ein nagelneues Tourenrad der Marke Greiff & Schlick.

Andi erkennt gleich, dass er es geklaut haben muss. Das Schnappschloss ist mit Gewalt gedreht worden, damit die Speichen nicht gesperrt sind. Alles, was der Jankowsky hier auf die Beine gestellt hat, nötigt ihnen Respekt ab. Bis auf zwei Dinge.

Er ist nicht arbeitslos. Er geht der Arbeit aus dem Weg. Und er ist ein Dieb. Sie haben, ohne darüber gesprochen zu haben, keine Furcht mehr.

Andi hat ihn zuerst entdeckt.

Er schiebt das NSU-Rad den Hang hoch. Vor den drei Rädern bleibt er stehen.

Er kennt sie.

Er muss das tiefe Lachen vom starken Klaus gehört haben.

Traut sich nicht mal in seinen eigenen Wagon hinein.

Er lässt das Rad ins Gras sinken, geht langsam auf den höchsten Baum zu, knöpft sich umständlich die Hose auf, stellt sich überbreitbeinig hin in schifft. Oder tut nur so.

Die Drei klettern aus seinem Wagon, schwingen sich auf ihre Räder, lassen sich den Hangweg hinunter rollen.

Jakob hätte erwartet, dass sich alle noch einmal im Ort zusammensetzen, um sich über den Jankowsky lustig zu machen. Er, der Eiertreter, der Raucher, die Großschnauze, der Arbeitsscheue, der Fahrraddieb, ist doch in Wirklichkeit eine richtige Pfeife, oder? Jetzt, bei dem Brückengeländer könnten sie gleich halten. Und dann würde es losgehen, das Sich-Biegen und das Sich-auf-die-Schenkel-Hauen und Halb-tot-Lachen.

Aber der starke Klaus und sein Bruder fahren weiter, als ob nichts geschehen wäre. Der Bahnübergang und das Scheppern von seinem dämlichen Schutzblech. Die Burg kommt in Sicht.

Die lindgrünen Stadtomnibusse mit dem Mohrenkopf.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden von Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839