Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 37
Romanepisoden von Joachim Kortner
NSU
Der Jankowski wohnt mit seiner Mutter in einem roten Backsteinhaus.
Der Jankowsky passt einfach nicht in die Raststraßenbande. Mit seinen siebzehn ist er Jahre älter, als alle anderen. Aber das ist es nicht.
Es ist auch nicht sein Berlinerisch.
Man kann ihm einfach nichts glauben. Außerdem ist er ein brutales Schwein. Und zugleich ein feiger Hund.
Zuerst gibt er damit an, was für ein großes Tier sein Vater sei und dass der bald aus Berlin nach Coburg kommen wird, hier dann einen Großhandel mit geheimnisvollen Sachen aufmachen will. Genaueres dürfe er nicht verraten. Er sei ja selbst Geheimnisträger und sie würden ja dann schon sehen, wenn es so weit ist. Bei den täglichen Spielen in der Sackgasse steht er immer nur daneben und gibt zu allem seinen angeberischen Senf. Fordert ihn einer auf, doch mitzumachen, redet er von Kinderkram, Pippifaxzeug und dass er schließlich aus dem Alter heraus sei.
Als Jakob ihm dann einmal gereizt vorschlägt, doch endlich Leine zu ziehen, bekommt er vom Jankowsky einen Knietritt in die Eier.
Er windet sich still in dem dunklen Schmerz, der einfach nicht nachlassen will.
Er setzt sich auf den Rinnstein.
Er zieht die Knie an sich und wimmert vor sich hin.
Diese dumpfe Qual kennt jeder Junge, der schon einmal von den Pedalen abgerutscht war. Aber diese Schmerzen hatte man dann immer seiner eigenen Ungeschicklichkeit zuzuschreiben. Das hier ist die Erniedrigung. Vor den Mädchen. Lieber brennt man sich selbst mit der Lupe Löcher in die Haut, steckt sich Nadeln in die Finger, reißt sich Haarbüschel aus, als diese eine Peinigung zu erdulden.
In der Spielgasse läuft das Hallihalloo weiter, als ob nichts gewesen wäre. Die vier Jahre Altersunterschied zum Jankowsky sind eine Macht, die keiner ungestraft antasten darf. Bei Hauptstadt von Schweden durfte der einmal Stockholm dazwischenrufen, obwohl er überhaupt nicht mitspielte.
*
Jakob spürt, wie sich Schmerzkrampf und Kotzgefühl in seinem Bauch langsam lösen. Immer noch hockt er auf dem Rinnstein.
Es muss eine richtige Rache werden. Eine Rache, die ihm der Jankowsky und auch alle Anderen nie zutrauen würden. Über die einmal nicht nur hier in der Raststraße geredet werden würde.
Er geht bedächtig zur Spielgruppe zurück. Der Jankowsky sitzt auf dem Rahmen seines Fahrrads. Sagt zu Jakob, das sei nur für sein freches Maul gewesen und ob er jetzt genug habe. Er grinst, spricht wie einer, der ein Kind um nachträgliches Verständnis für eine scharfe Erziehungsmaßnahme bittet.
Noch nie zuvor hatte Jakob das getan, aber jetzt nimmt er alle Wut und Kraft seiner dreizehn Jahre zusammen und schlägt seinen Quäler mit der Faust an den rechten Unterkiefer.
Der Jankowsky kippt vom Rahmen seines NSU-Rads, sinkt in den Maschendraht und rutscht daran herunter. Jakob sieht nicht mehr, wie die Straßenbande reagiert. Denn er rennt aus der Spielgasse hinaus und fegt noch ein kurzes Stück über die Raststraße.
Die rettende Einfahrt seiner Hausnummer nimmt ihn auf.
Einen Dauerlauf habe er gemacht, täuscht er seiner Mutter vor.
Er kniet sich auf die Klappcouch, lugt durch die Verästelungen der Fensterpelargonien auf die leere Raststraße. Der Jankowsky hat sich flach an den Eisenzaun gepresst und lauert am Eingang.
So sieht der Jankowsky also von hinten aus. Die hellblonden, immer mit Fliederhaaröl glatt nach hinten gekämmten Haare.
Bisher hatte Jakob ihn immer nur von vorne gesehen, an Zäune und Mauern gelehnt, auf dem Fahrradrahmen sitzend, immer nur als Zuschauer. Oder als einen, der auf dich zu fährt, erst im allerletzten Moment Rücktritt und Handbremse rein haut und dich dann mit seinem kariösen Schneidezahn angrinst.
Ihn überfällt ein Grausen, auf ewige Zeiten hier im vierten Stock leben zu müssen. Dem Jankowsky, dem Arbeitsscheuen, kann man ja zu jeder Tageszeit begegnen. Der würde einen glatt totschlagen. So etwas ist dem zuzutrauen. Der würde auch warten können. Bis sich eine günstige Gelegenheit zur Rache bietet.
Der Mutter kann Jakob seine Not nicht anvertrauen. Sie würde ihm sagen, er dürfe nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Dem Vater hätte er damit erst recht nicht kommen können. Der will seine Ruhe haben, wenn er aus dem Dienst in der Sparkasse kommt. Außerdem seien sie Flüchtlinge und müssten sich hier in Coburg anpassen, dürften nicht unangenehm auffallen. Die Coburger bekämen ja sonst ein völlig falsches Bild von den Oberschlesiern.
Roland, sein ältester Bruder kommt die Treppe herauf. Unter seinem wuchtigen Tritt dröhnen die Stufen besonders laut. Er ist der Bulle, das Kraftpaket in der Familie. War schon mit Panzerfaust und Karabiner beim Volkssturm gewesen, hatte mit Russkis Tabak getauscht. Ließ sich von keinem etwas gefallen. Ihm vertraut er sich an. Entschlossenheit und Wut im Gesicht des ältesten Bruders. Gleich darauf poltern Rolands wuchtige Schritte die Treppe hinunter. Im Windschatten dieser hölzernen Paukenschläge fasst er etwas Mut, läuft hinterher.
Aus dem sicheren Hofeingang sieht er, wie sein Roland den Jankowsky mit beiden Händen an der Jacke hochhebt, fallen lässt und wegstößt. Der fällt auf die Straße, rappelt sich auf und trabt seinem Fahrrad zu. Nie mehr solle er sich hier blicken lassen, hört er seinen Bruder dem Jankowsky noch nachbrüllen.
Die Fremdheit von zehn Jahren Altersunterschied verblasst. Bei dem, was er gesehen hat, ist er sich sicher, dass die Raststraße, der Heuweg, die Callenberger Straße, ja eigentlich die ganze Stadt wieder ihm gehören. Sein Bruder geht ins Haus zurück.
Das überschwängliche Lob, das Jakob ihm beim gemeinsamen Treppensteigen hinterher schickt, geht im Stampfen der Füße unter.
Von dem Tag an sucht sich der Jankowsky ein anderes Revier.
Keiner weiß, wo das ist.
Keiner vermisst ihn.
Nur ab und zu sieht man sein metallicblaues NSU-Rad hinter dem Zaun im Heuweg.
Raststraße
Roman in Episoden von Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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