Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 25
Romanepisoden von Joachim Kortner
Die Sünderin
Am Vortag hat der Bademeister damit begonnen, das algentrübe Wasser abzulassen. Da kann das Becken heute noch nicht wieder voll sein. Trotzdem fährt Jakob nachmittags am Bad vorbei.
Ein paar Kinder lehnen sich über das Geländer der Hochterrasse, schauen gelangweilt auf die Straße herab. Er fragt einen Jungen.
Totale Ebbe. Die schrubben noch.
Ob das Becken überhaupt noch mal eingelassen werde, sei noch gar nicht sicher. Im NIVEA-Wetterkalender wären ab morgen nur noch Wolken zu sehen.
Er schiebt sein Rad trotzdem vor den Durchlass. Vielleicht könnte er irgendeinen Bekannten sehen. Außer diesem neuen Studienrat mit den beiden barfüßigen Kindern an der Hand kommt im Moment niemand vorbei.
Wieder stadteinwärts. Vor dem Burgtheater eine kleine Menschentraube. Da muss was los sein. Er bleibt im Sattel, stützt sich mit dem Fuß auf dem Rinnstein ab. Eine Gruppe von Jugendlichen steht davor. Schweinereien raus aus dem Kino! Er kann das Pappschild auf zwanzig Meter Entfernung lesen.
Er erkennt Gesichter. Der Mähringer, der Oberministrant Paulus, die dürre Labitzke, die Ruth mit der komischen Schneckenfrisur und ein paar andere aus der katholischen Jugend. Den Kaplan Wontorra ohne seinen römischen Priesterkragen hätte er fast nicht erkannt. Sie wirken hilflos, bemühen sich um ernste, trotzige Mienen. Jakob kommt sich als Feigling vor, weil er sich in der Gruppe der Gaffer versteckt. Schließlich ist er doch auch katholisch. Das Gefühl, eine Flasche zu sein, beruhigt er damit, dass keiner der Demonstranten so jung ist wie er. Außerdem weiß er ja nicht, worum es bei der Sache überhaupt geht.
Kinogänger verdrücken sich unauffällig von der Kassenschlange ins Foyer. Ein älterer Mann zeigt den Demonstrierenden stumm den Vogel. Die dunkelblaue Uniform der Stadtpolizei steht mit verschränkten Armen neben der Kasse und passt auf, dass niemand unter achtzehn Jahren ins Kino kommt.
Jakob fährt ein Stück weiter, dreht sich noch einmal um. Die riesige, handgemalte Reklameleinwand für den Film DIE SÜNDERIN. Die Hildegard Knef schaut auf ihn herab. Sie hat ein sanfte Welle im Haar und große Augen.
Beim abendlichen Tomatenbrot hört er seinen Vater von nichts wie Sauereien im Kino heutzutage reden. Das hätte es früher nicht gegeben.
*
Er lauert im schattigen Weg am Rittersteich auf seinem Rad, das Burgtheater im wachen Kontrollblick. Erst nach über einer halben Stunde zieht sich der Kinopolizist in bedächtigem Streifenschritt vom Burgtheater zurück. Jakob klopft sein Herz im Hals.
Soll er sich mit seinem Milchgesicht an die Kasse wagen? Sitzt da vielleicht jemand, der seine Eltern kennt? Er geht auf die Filmschaukästen zu, die unter dem überdachten Vorbau an der Wand hängen. Tut so, als interessiere er sich für die Fotos im DEMNÄCHST- Kasten. Seitenblick zur Kasse.
Geschlossen. Er wagt sich in das leere Foyer, steuert die Herrentoilette an und pinkelt erst einmal. Von draußen hört er die Filmlautsprecher, die abwechselnd einen Mann und eine Frau reden lassen. Das entspannte Gefühl in seiner Blase macht ihn mutig. Was soll ihm denn schon passieren? Mehr als rausschmeißen können sie ihn nicht. Und die Polizei ist ja weggegangen.
Er schlüpft durch die zusammengezogenen roten Filzvorhänge.
Er setzt sich auf den erstbesten Klappsitz.
Er macht sich klein.
Lieber Gott, mach, dass die Platzanweiserin nicht aufkreuzt.
Der Ecksitz scheint ihm wegen der Bodenbeleuchtung noch zu gefährlich. Im Schutz einer dunkleren Filmszene huscht er bis zur Mitte der Parkettreihe.
In der Angst, doch noch entdeckt zu werden, fliegen die meisten Wörter der Filmgespräche ungehört an ihm vorbei. So viel bekommt er mit, dass sich eine Nutte in einen Maler verliebt hat.
Der hat eine Krankheit im Kopf und kann immer weniger sehen.
Irgendwann sieht man sie nackig im Liegestuhl. Aber das ist so weit weg, dass man praktisch gar nichts erkennen kann.
Schwarz-Weißfilme mag er sowieso nicht besonders. Da ist ihm doch der Eroll Flynn schon lieber. Wenn er die Tochter des Gouverneurs entführte, küsste und gepanzerte spanische Soldaten mit dem Degen außer Gefecht setzte. Wenn die in ihren eisernen Rüstungen über Bord fielen und hoffnungslos absoffen, dann war er zufrieden. Im Pulverdampf mussten ganze Breitseiten auf feindliche Galeonen abgefeuert werden, Masten mussten unter einem Volltreffer zersplittern.
Aber hier nur lauter trauriges Zeug. Am Schluss muss die Frau dem Maler noch ein Gift geben, weil er blind nicht mehr weiterleben will. Bald wird die Schrift erscheinen, der Samtvorhang sich langsam schließen.
Dem verräterischen Licht muss er entkommen. Auf Händen und Knien kriecht er bis zum Gang. Verschwindet wieder, wie er gekommen ist.
Er taucht in den bleigrauen Tag. Unter dem Schutzschild von Kindergeplärre und Motorengedröhn erreicht er sein Rad am Zaun des Teichs.
Warum die da demonstriert hatten, wird ihm nicht klar. Die weit entfernte, nackte Frau im Liegestuhl kann es nicht sein. Bei der konnte man ja unten herum nichts sehen, weil sie sich weggedreht hatte.
Vielleicht, weil die Hildegard Knef nicht mit dem Maler verheiratet war.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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