Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 16
Romanepisoden von Joachim Kortner
Das Fest
Die Anderen in der Klasse sprechen von einem Stiftungsfest. So selbstverständlich, wie man von Weihnachten oder von Geburtstag spricht. Stiftungsfest – was das überhaupt sein soll? Dass da schulfrei ist, hat Jakob herausgehört. Aber das Wichtigste traut er sich nicht zu fragen: Ob er mit seinem Andi auch dabei sein darf. Weil sie ja nicht von hier sind.
Der Bruder ist heute krank. Die Mama hat ihm ein Thermometer in den Hintern gesteckt, achtunddreißigacht und Du bleibst heute im Bett gesagt. Wadenwickel.
Jakob fühlt sich heute nur halb, muss für den Bruder mit aufpassen, darf nichts überhören, was wichtig ist. Seltsame Wörter wie Rosengarten und Sintflutbrunnen hat er aus den Gesprächen der Kameraden aufgeschnappt.
Der Klassenleiter sagt etwas von vollzählig und Schülermützenpflicht. Dass es schön wäre, wenn alle weiße Kniestrümpfe, weißes Hemd und kurze Hosen hätten. Also dürfen sie beide auch mitgehen zum Stiftungsfest. Er hat ja gesagt: alle.
Vom Ansehen des Ernestinums, einheitlichem Erscheinungsbild der 1a und von der Klassenehre redet der Studienrat, der täglich auf seiner hundertfünfundzwanziger DKW mit viel blauem Rauch die Steingasse hoch fährt. Die Lehranstalt habe schließ- lich einen Ruf zu verlieren. Auch sollten sie nicht wie eine Hammelherde daherkommen, sondern gefälligst auf die Pauke der Stadtkapelle hören. Der Gleichschritt sei eine Sache der Intelligenz.
*
Viererreihen. Die 1a hinter der Stadtkapelle. Aufstellung nach dem Alphabet. Bis auf zwei haben alle weiße Kniestrümpfe. Die Wucht der Bauchpauke zwingt in den Gleichschritt. Der Studienrat marschiert links außen. Der Bocker, dieser Arsch, sagt links links, hinterm Hauptmann stinkt`s. Jakob hat mal im Pausenhof gehört, dass der im Krieg Hauptmann gewesen sein soll.
Damals hatten sich ein paar Große aus der Neunten über die 125er DKW seines Klassenlehrers lustig gemacht.
Vehikel, alte Mühle, alter Bock, Museumsstück, Spirituskocher.
Die Worte hatten ihm schon gefallen. Aber nicht, dass es gegen seinen Klassenlehrer ging. Der Bocker hinter ihm singt jetzt Parademarsch Parademarsch, der Hauptmann hat ein Loch im Arsch. Wenn der Studienrat den Bocker hören würde, dann fliegt er garantiert, der Oberarsch.
*
Die Mama. An der Ecke zur Löwenstraße. Da vorne steht sie, hat ihre beiden Einkaufstaschen abgestellt. Ihr winziges Spitzentaschentuch flattert als weißer Schmetterling auf und ab. Das riecht immer so gut nach Kölnisch Wasser. Jakob winkt zurück.
Dass er sich heute die Schülermütze ein bisschen schräg aufgesetzt hat, wird ihr bestimmt gefallen. Er ist fast auf gleicher Höhe mit ihr. Höchstens drei Meter noch. Da macht sie einen Ausfallschritt in seine Viererreihe hinein, trippelt mit, drückt ihm hastig zwei Markstücke in die Hand, rettet sich mit der Mahnung Aber christlich! aus der Marschkolonne der Blaumützenträger auf den Gehsteig zurück. Von hinten spottet der fette Bocker was von Mamilein und Muttersöhnchen. Jakob ärgert sich darüber, dass er immer so schnell rot wird. Wenn einer ihn verspottet. Sogar wenn er gelobt wird. Ihn tröstet die Vorstellung, den Bocker am nächsten Montag in der fünften und sechsten unter dem Turnreck sehen zu können. Wenn der wieder mal an der Stange hängt und seinen Felgaufschwung nicht schafft.
Wie ein nasser Sack. Und seine Hechtrolle auf der Matte sieht aus, wie ein Kleinkinderpurzelbaum.
*
Der weite Platz vor dem finstergrauen Gaskessel. Im Stehen spielt die Stadtkapelle ein paar Takte des letzten Marsches.
Dann lassen die Bläser aus den Ventilen den Speichel in trüben Fäden auf den Angerboden abrinnen. Verschwitzte Schildmützen werden trocken gewedelt, Uniformjacken aufgeknöpft. Der vierreihige Marschblock des gesamten Ernestinums ist inzwischen zerbröckelt, wälzt sich als zerfleddertes Heer den verschiedenen Zielen entgegen. Abiturklassen haben es sich schon auf den Klappstühlen der Scheidtmantel-Wirtschaft bequem gemacht. Jakob und Andi lassen sich im Strom der Jüngeren mitspülen, wollen in den Rosengarten, möchten sehen, welche Schätze sich hinter seiner undurchdringlichen Hecke entdecken lassen. Heute kann man da einfach so hinein. Das Geld von der Mama verschwindet wieder in der Hosentasche. Erst einmal ein paar Coburger vorlassen.
Auf den Knirschkieseln der Wege gehen sie voran, folgen dem durchdringenden Ruf des Pfaus. Den kennen sie noch aus dem zerbombten Zoo in Berlin.
Über Trümmerberge hatten sie ihn damals auf Trampelpfaden erreicht, hatten stumm vor den trostlosen, fast leeren Käfigen gestanden.
Doch hier ist eine andere Welt. Hecken, exakt gestutzt und in Formen gebändigt. Ein Blütenmeer roter Rosen, von Bienen und Hummeln umsummt. Goldfasanen und Perlhühner scharren hinter ihren Drahtkäfigen. Quirlige Exoten in leuchtenden Farben.
Dreiste Sperlinge, von irgendwo her eingedrungen, bedienen sich am Vorrat der gefangenen Schönheiten. Der Pfau mit wippendem Federkrönchen fächert ihnen sein irisierendes Zauberrad auf. Plätschergeräusch. Der Brunnen mit kreisrundem Becken, kristallklar. Darin die Felseninsel. Eine Ertrunkene mit nacktem Oberkörper, an die sich ihr Kind klammert. Auf der Spitze des Felsens der muskulöse Mann. Eine Frau im Arm, die er aus den Fluten gezogen hat. Mit gewaltiger Mähne ist gerade ein Löwe aus der Sintflut aufgetaucht, klammert sich an den rettenden Felsen.
So ähnlich wie der Gunther. Damals, wo er uns auf der Flucht durch den Fluss getragen hat, flüstert Jakob dem Bruder zu. Der nickt, wendet dann ein, der Gunther habe nicht so starke Muskeln, wie der Mann.
Ich hab ja auch bloß gesagt, so ähnlich.
Andi muss unbedingt noch einmal zu den Vogelkäfigen zurück.
Die ausgefallene Pfauenfeder, ganz nahe am Drahtgitter. Die muss er haben. Die ist ja noch schöner, als die kleine blau gestreifte Feder vom Eichelhäher, die er bei Schloss Hohenfels gefunden hat.
Einst war ihm ein kleines, in Watte gepacktes Heiligtum zerstört worden. Sein kobaltblaues, innen goldstrahlendes Tässchen. Auf der Flucht hatte es eine russische Brandgranate in ein unansehnliches Porzellanplättchen verwandelt.
Dieses blaugrün schillernde Zauberauge aus einer Schwanzfeder musste in seine Sammlung der Kostbarkeiten, die er sich hier im Westen neu angelegt hatte. Wegen der vielen Einheimischen hat er sich vorhin nicht getraut, dieses herrenlose Juwel hervor zu angeln. Vielleicht ist das hier verboten und man könnte deswegen von der Schule fliegen.
Fallt mir bloß nicht auf. Wir sind hier Gäste in der Stadt, hatte ihnen die Mama mehr als einmal gesagt. Und wenn man wo zu Gast ist, dann hat man gefälligst nicht unangenehm aufzufallen.
*
Jakob lässt sich auf einer der Sitzbänke am Brunnen nieder. Er wundert sich, dass die anderen Jungen nur ihre Brote und Äpfel kauen, lachen und mit geknülltem Butterbrotpapier Fußball spielen. Seine Augen tasten das Kunstwerk immer wieder von allen Seiten ab. Das Schönste, was die Menschen jemals gemacht haben. Eine kleine Brise. Kühles, zerstäubtes Plätscherwasser umfächelt das Gesicht.
Augen zu.
*
Ich hab sie.
Andi kitzelt den Bruder von hinten am Ohr. Die Pfauenfeder. Er lässt ihr Zauberauge im Sommerwind wippen, sich spiegeln.
Streift über die auseinander gegangenen Federästchen und schließt sie. Da sei noch eine zweite gewesen. Die habe sich aber ein Einheimischer geholt.
Sie schlendern zum Marktplatz. Zelttuchdächer der Buden glänzen im verräucherten Bratwurstfett. Ihre blauen Rauchfahnen verschwinden im Sog der schmalen Gasse neben dem Rathaus.
Auf den Stufen der Prinzenstatue hocken die blau bemützten Jungenreihen, blinzeln in die Sonne. Schlingen sich genüsslich die Rostbratwurst hinein. Lecken sich Senfreste aus dem Mundwinkel und werfen den gefräßigen Markttauben die Krumen ihrer Brötchen zu.
Für die Brüder ist jetzt die heilige Stunde gekommen. Auch sie werden gleich eine echte Coburger Bratwurst in den Händen halten. Wie die Einheimischen. Sie werden sich die sechzig Pfennige Wechselgeld in die Hosentasche rutschen lassen. Dann einen ungestörten Platz suchen, den ersten Biss in ein herab hängendes Wurstende wagen. Mit aufgesperrtem Mund versuchen, sich die Lippen nicht zu verbrennen. Etwas breitbeinig da stehen. Fettspritzer auf Hemd und Hose vermeiden. Sich danach mit dem Handrücken die Mundwinkel auswischen. Sie werden dazu gehören.
*
Sie kommt gerade aus der Marktapotheke. Herztropfen mit Weißdorn für ihre Vermieterin. Im Gewimmel der blauen Mützen ihre beiden Jüngsten. Geübter Mutterblick.
Einen langen Weg ist sie mit ihnen gegangen. Bloß weg von der Ostfront. Überleben. Raus aus den Kinderbetten. Herunter von Schaukelpferd und Wippe. Hinein in den gepferchten Zug. Hinauf auf den offenen Lastwagen. Irgendwo ein Dach über dem Kopf finden. Sich einfach bloß unterstellen vor dem Krieg. Wie bei einem Gewitter. Dann das Unvorstellbare: Eingeholt und von der Roten Armee überrollt. Die fremden Soldaten. Die unverstehbare Sprache. Sich schützen als Frau. Die Flucht in den goldenen Westen, wo dir der Zucker in den Arsch geblasen wird. In Sekunden flimmert eine Unzahl von Bildern vor dem Auge ihrer Erinnerung ab.
*
Endlich hier in dieser sauberen und vornehmen Stadt. Plätze, Fassaden, Statuen, Schlösser. Eine Burg, die wie eine Krone auf einem Berg sitzt. Sogar eine katholische Kirche gibt es. Und ihre beiden Jüngsten hier auf der Oberschule. Da drüben haben sich ihre Jungen zu Füßen des hohen Standbilds auf den Treppen niedergelassen. Schülermützen tragen sie. Eben wie alle Anderen sehen sie aus. So hat sie es gewollt. Und so ist es jetzt auch. Nur kurz in ihr die Versuchung, ihnen hinüber zu winken.
Sie verschwindet in der Gasse an der Hofapotheke, will sie nicht in Verlegenheit bringen.
Raststraße
Roman in Episoden Joachim Kortner
- Paperback
- 244 Seiten
- ISBN-13: 9783833489839
- Verlag: Books on Demand
- Erscheinungsdatum: 28.04.2008
- Sprache: Deutsch
- Farbe: Nein
Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839
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