Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 13

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Das Sonnenwunder

In den Abendnachrichten vom Bayerischen Rundfunk haben sie es gebracht. Das von Heroldsbach. Andi hat es im Atlas auf der Bayernkarte schon gefunden. Ein winziger schwarzer Punkt.

Gar nicht weit von Bamberg. Die Heilige Maria wollen sie gesehen haben. Das behaupten ein paar Mädchen. Sogar die Hand hätten sie ihr gegeben, das Jesuskind auf den Arm nehmen dürfen.

*

Ihr Katholischen, ihr spinnt ja. Die Maria wollt ihr gesehen haben, sagt der Blocker aus Jakobs Klasse. Und mit dem Zeigefinger bohrt er sich die Schläfe an. Jakob kriegt rote Ohren und sein heißes Gesicht. Wie immer, wenn er sich schämt. Recht hat er ja, der Blocker. Auch die Mama hat gesagt, dass die in Heroldsbach bloß das Wunder von Fatima nachmachen wollen.

Aber trotzdem köchelt in ihm stille Wut auf den Blocker. Der hat die Heilige Maria doch glatt die Maria genannt. Als ob sie bloß eine normale Frau ist. Außerdem ist der Blocker der einzige Fette in der Klasse. Der kommt noch nicht mal in der Turnhalle an den Kletterstangen hoch, mit seiner Wampe. Und so einer will was über die Katholischen sagen. Ausgerechnet so einer.

*

Über die ausgetretenen Holztreppen knarren sich Jakobs Schritte hoch bis zum zweiten Stock. Albrecht Piontek Dentist. Vor dem weißen Emailschild mit den schwarzen Buchstaben hat Jakob mindestens so viel Angst, wie vor dem fauligen Gestank aus dem Mund vom Piontek. Der hat nämlich Polypen in der Nase. Vielleicht kommt der Gestank davon. Oder von seiner wackeligen Zahnprothese. Dass sich darunter was Verfaultes angesammelt hat. Zum Piontek muss er gehen, weil der auch Oberschlesier ist. Jakob nimmt sich eine Illustrierte. Zur Ablenkung. In der linken Praxisecke lauert nämlich der Tretbohrer vom Piontek. So einer mit Pedal. Den kennt er schon aus der grauen Zeit in der Russenzone. Das Rasen, Toben und Dröhnen im Kopf. Den brandigen Gestank ausgebohrter Zahnfäule. Den unbeschreibbaren Schmerz im schwellenden Rhythmus des Pedaltretens.

Der Piontek wird ihn unerbittlich aus der Ecke holen, wenn mal wieder der Strom abgeschaltet wird. Und dann wird er das Pedal treten.

*

Da ist es, das Bild mit den Mädchen aus Heroldsbach. In klein hat er es schon in einer Zeitung gesehen. So ein Bild mit groben Punkten. Aber hier springt ihn eine richtige Fotografie an. Eine ganze Illustriertenseite groß. Die Mädchen ernst. Brav die Hände gefaltet. Fingerspitze auf Fingerspitze. Dicke Zöpfe fallen aus geblümten und gepunkteten Kopftüchern auf die Schultern.

Wollene Strickjacken über den Schürzenkleidern. Lange Strümpfe, gerippt, stecken in hohen Schnürschuhen. Zehntausend Pilger sollen das sein, die hier auf dem zertrampelten Feld stehen. Die in den vorderen Reihen knien sich auf die Erde, haben sich Rosenkränze um die Betfaust geschlungen. Kopftuchfrauen mit schräg geneigten Gesichtern. Aber auch Damen im Pelzmantel mit breitkrempigen Hüten. Alte Männer mit Hut oder Baskenmütze. Ein Sonnenwunder soll es da gegeben haben. Am grauen Himmel sei sie erschienen, habe sich gedreht wie ein Rad.

*

Die Frau vom Piontek kommt im weißen Kittel herein. Erst jetzt merkt er, dass außer ihm keiner mehr im Wartezimmer sitzt.

Jaja, die alte Heimat, sagt der Piontek und gleich stülpen sich seine Worte als pestiger Gestank über ihn.

Heimat, deine Sterne, sie strahlen mir auch am fremden Ort.

Leise und ganz nahe singt das der Piontek an seinem Gesicht.

Ob er das Lied kennt? Jakob nickt stumm, die dicken Wattewalzen um den Backenzahn. Mit einem spitzen Ding kratzt er ihm die Einlage heraus. Eine wahre Goldgrube sei seine Praxis gewesen. In der alten Heimat.

Lauter hohe Tiere. Der Ouberbirgermeister und sogar der päpstliche Hausprälat. Aber da sitzt ja jetzt der Pole drin.

Der Pesthauch vom Piontek hat sich an den Ouberbirgermeister, den päpstlichen Hausprälaten und an die hohen Tiere geklammert, zwingt Jakob zu flachem Hecheln. Der Piontek schwenkt die große Leuchte über den Behandlungsstuhl. Licht gleißt auf.

Wenn er jetzt mit weiten Augen da hinein starrt in die helle Reinheit, dann kann ihm der Faulatem vom Piontek nichts mehr anhaben. Dann verschwindet die Pest aus den Nasenlöchern.

Bunte Kreise, Spiralen, Streifen, Funken umtanzen die Praxisleuchte. Diese Sonne hat den Gestank aus dem Dentistenmaul einfach weg gebrannt. Ein Sonnenwunder hat er jetzt auch erlebt.

Der Piontek pinzettet ihm die Watterollen aus dem Mund, lässt sie in den Treteimer fallen. Sagt, er soll mal mit der Zunge drüber fahren. Die Backenzahnruine ist wieder voll und glatt. Mit lauem Wasser nachspülen. Reste der heraus gekratzten Einlage und Amalgamspäne werden im Ausguss weg gegurgelt. Scheene Grieße soll er an die Eltern ausrichten. Artig nickt er. Die Frau vom Piontek lächelt ihn wie Süßstoff an. In beiden Mundwinkeln blitzt ihr das Gold.

Auf dem dunklen Treppenflur fährt seine Zunge über die geglätteten Kanten der einstigen Zahnruine. Noch immer tanzen ihm vor den Augen die bunten Ringe, Streifen, Funken und Spiralen seines Sonnenwunders.

*

Acht-Uhr-Messe in Sankt Augustin. Jakob sitzt zwischen der Mama und einer fremden Frau. Münder und Nasenlöcher stoßen den Atem nebelstrahlig aus. Über das kleine Loch in den Wollfäustlingen ist er froh. Zum Blättern im Gesangbuch kann sich ein Finger kurz hinaus wagen, sich dann schnell wieder in die Wärme des Handschuhs verkriechen. Im Altarraum hat sich die Schola zum Halbkreis aufgefächert.

Veni creator spiritus.

Ein Lied über den Heiligen Geist, flüstert ihm der Mamamund ins Ohr.

Der Pfarrer steigt auf die Kanzel. Er spricht von den armen Hirtenkindern in dem Ort Fatima. Und dass sie damals die Mutter Gottes gesehen haben. Gleich im nächsten Jahr habe der Erste Weltkrieg aufgehört. Genau, wie es die Gottesmutter vorausgesagt hatte. Unheilbar Kranke, ruft er laut, hätten ihre Krücken weggeschmissen, ihre Bahren und Rollstühle in Fatima gelassen. Und dann sei das berühmte Sonnenwunder geschehen. Danach habe sogar ein Blinder wieder sehen können. In Heroldsbach aber sei der Teufel am Werk. An einer Lesezeichenstelle schlägt er seine Bibel auf. Dann sagt er was von Matthäus vierundzwanzig und von falschen Propheten. Dass die mit der Hilfe des Satans Wunder tun. Jeder werde exkommuniziert, der dorthin pilgert. Und wenn die Mädchen aus Heroldsbach dem Erzbischof von Bamberg nicht gehorchten, dann würden sie auch exkommuniziert. Böse klingt die Stimme. Er hat die Hornbrille abgenommen, putzt ihre Gläser in einer der unzähligen Falten seiner gerafften Albe, lehnt sich mit den Ellenbogen über die Kanzelbrüstung hinaus. So, als suche er von oben, einem Raubvogel gleich, unter den Kältevermummten nach einem bestimmten Gesicht. Nach einem Gesicht, das er an Ort und Stelle gleich exkommunizieren könnte. Die Mama flüstert Jakob etwas ins Ohr.

Von einer Frau mit einer Stimme wie eine Nachtigall. Von ihrer geheimen Liste, in die man sich eintragen könne. Mit dem Omnibus vom Gevers würde man von Coburg nach Heroldsbach und zurück gefahren werden. Aber die Frau fehlt heute in der Messe.

Wie gerne wäre er dabei gewesen, wenn der Pfarrer die Nachtigall in der Kirche verhaftet hätte.

Der Strom wälzt sich im Mittelgang der Kommunionbank entgegen. Jakob hinter einer dicken Frau. Die hat ihre Hände gefaltet und die Daumen gekreuzt. Sie stinkt wie die Pissecke bei der Gastwirtschaft Weberpals in der Callenberger Straße. Hätte er jetzt so einen Scheinwerfer wie beim Piontek in der Praxis, einen mit weißem Licht, er würde wieder die Augen aufreißen und hinein starren in diese Reinheit. Aber die Glasmalereien lassen heute nur matte Farben durch.

Ein paar Meter trennen ihn noch vom Pfarrer und dem Kelch.

Gleich wird er die Hostie auf der Zunge spüren. Dieses schmelzende weiße Ding, dessen Geheimnis er auch mit seinen frömmsten Gedanken und Gefühlen noch nicht hatte entschlüsseln können. Die Morgensonne ist durchgebrochen, lässt den Heiligen Augustin erglühen. Ein sonnengelbes Glasstück des Kirchenfensters hat er sich ausgesucht, reißt seine Augen auf, starrt hinein. Alles goldene Licht dieses Scherbens muss er einfangen. Als ihm der Oberministrant die goldene Patene unters Kinn hält, da ist sein ekeliges Fantasiebild einer getränkten Unterhose schon verblasst. Domine, non sum dignus. Der Mund – die Zunge – die Hostie. In den Wangen des Pfarrers die geplatzten Äderchen. Das Messgewand raschelt weiter zum nächsten frommen Mund.

Seine Zungenspitze legt die speichelgeweichte Hostie auf dem plombierten Zahn ab. Ein edler, würdiger Platz geworden ist sie, diese blank polierte Kaufläche, die ihm der Piontek gemacht hat. Die fromme Stinkefrau ist schon von irgendeiner Kniebank verschluckt worden. Es gibt sie, diese Sonnenwunder. Aber er wird es niemandem sagen. Am allerwenigsten dem Blocker, dem Arschloch.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

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