MdB Thomas Hacker (FDP) zum Holocaust-Gedenktag: „Die Demokratie kennt keinen Schlussstrich unter der Geschichte“
Was machen wir als Gesellschaft falsch, wenn sich Menschen nicht davon abhalten lassen, in KZ-Gedenkstätten zu rodeln oder mit Langlaufski zwischen Massengräbern ihre Runde zu ziehen?
Eine Antwort auf diese verstörende Momentaufnahme des noch jungen Jahres 2021 lässt sich vermutlich so schnell kaum finden. „Die deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg hat selbst eine Geschichte“ – so beschreibt es die Bundeszentrale für Politische Bildung treffend. Die intensive Aufarbeitung unserer Vergangenheit und die Kultur des Gedenkens ist ein allgegenwärtiger Bestandteil der bundesrepublikanischen Identität. Doch warum gelingt es damit nicht ausreichend, ein notwendiges Geschichtsbewusstsein bei jedem Einzelnen zu schaffen?
Am Mittwoch jährt sich der Jahrestag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – seit 1996 ist er bundesweit gesetzlich verankerter Gedenktag, 2005 haben ihn die Vereinten Nationen zusätzlich zum internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt. Im Rahmen einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag wird dabei die 1792 für die Sulzbacher Synagoge gefertigte Torarolle enthüllt. Nach ihrer zufälligen Entdeckung 2015 wurde das Pergament aufwendig in Israel restauriert und die nach Jahrhunderten verblassten Buchstaben nachgefahren. Als koschere Torarolle kann sie nun in die wachsende jüdische Gemeinschaft zurückkehren – ein wunderbarer Höhepunkt im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.
Was braucht es mehr als diesen beeindruckenden Anlass zur Erinnerung – besser gesagt: zur Auseinandersetzung mit der Geschichte? Was braucht es mehr als einen Gedenktag, Dokumentationszentren, Zeitzeugenberichte und die interkulturelle Begegnung, um den Herausforderungen einer modernen wie aufrichtigen Erinnerungskultur gerecht zu werden?
Mich persönlich bewegt die Erinnerung und Auseinandersetzung mit den dunklen Ereignissen unserer Vergangenheit – sei es in meiner Zeit im Bayerischen Landtag, in meiner Heimat Bayreuth oder jetzt im Deutschen Bundestag – immer sehr. Es fällt schwer, danach wieder in den Arbeitsalltag zurückzukehren. Auch nach einer Plenarrede zur Erinnerungskultur braucht es einen Moment zur Verarbeitung. Aber berührt diese Konfrontation auch den 16-jährigen Teenager, der jetzt unter Pandemie-Bedingungen im digitalen Geschichtsunterricht über die Shoah oder die Nürnberger Prozesse spricht, weil es der Lehrplan so vorsieht?
Vermutlich nicht, wenn sich Jugendliche im sozialen Netzwerk TikTok als Holocaust-Opfer schminken. Nicht einmal bei einigen Mitgliedern des Deutschen Bundestages scheint es geschichtliches Bewusstsein zu geben, wenn die Jahre 1933 bis 1945 als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet werden. Doch es bleibt unsere Pflicht als Demokraten und Menschen, sich diesem Ungeist entgegenzustellen. Die Demokratie kennt keinen Schlussstrich unter der Geschichte. Niemals.
Dafür braucht es auch weiterhin Tage und Orte und Institutionen des Gedenkens. Gedenktage schaffen Bewusstsein, Orte die erfahrbare Begegnung. Doch ohne die persönliche Begegnung mit Zeitzeugen – Überlebenden und ihren Angehörigen – verfehlen Tage und Orte ihren tieferen Sinn.
Diese persönliche Begegnung müssen wir für die kommenden Generationen bewahren, damit die Erinnerungen niemals verblassen und Feinden der Demokratie überlassen werden. Die Zeitzeugen verlassen uns, aber sie können in Hologrammen, Filmaufnahmen und persönlichen Dokumenten wie Briefen und Tagebüchern in unserer Mitte bleiben. Starke Gefühle, Emotionen und Wissen sind essenziell, damit Geschichtsbewusstsein entstehen kann. Doch entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ist es, moderne und zukunftsgerichtete Erinnerungskultur mit politischer Bildung in Einklang zu bringen. Nur so werden wir Gruppendruck, rassistische Überzeugungen, Ausgrenzung und Xenophobie nach den Trump-Jahren erfolgreich entgegentreten können.
Die Corona-Krise hat die rechten und linken Ränder noch einmal stärker werden lassen. Umso stärker müssen wir das Gemeinsame und Verbindende wieder in den Fokus – auch der politischen – Bemühungen stellen. Treffender als die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann zur Corona-Krise kann man es kaum ausdrücken: „In der aktuellen Bedrohungssituation erfahren wir etwas über uns, das wir lange Zeit ausgeblendet haben: dass wir auf den anderen elementar angewiesen sind.“
Drei liberale Ansätze für eine zukunftsgerichtete Erinnerungspolitik:
Erstens: Der Schulunterricht braucht eine aktive, kritische, gegenwartsbezogene und handlungsorientierte NS-Betrachtung im Hier und Jetzt. Diese Betrachtung muss sich zielführend im gesamten Lehrplan der weiterführenden Schulen widerspiegeln. Zugleich brauchen wir forschendes und selbstständiges Lernen in den Schulen. Keine Angst vor Diskussion und Konfrontation, aber Raum für individuelle Begegnung mit erinnerungspolitischen Themen. Gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen und Berufsschulen müssen die Schülerinnen und Schüler zur Reflexion statt allein zum Bekenntnis ermutigen. Die Schülerschaft wird vielfältiger und bunter – dem gesellschaftlichen Wandel muss deshalb Rechnung getragen werden.
Zweitens: Lebenslanges Lernen gilt auch für die Kulturministerkonferenz (KMK). Die letzten Auseinandersetzungen mit einem „Unterricht über Nationalsozialismus und Holocaust“ und Lehrerfortbildung sind mittlerweile 15 Jahre alt, der letzte Beschluss der KMK mit Empfehlungen zur Erinnerungskultur – ganz allgemein – in der Schule ist aus dem Jahr 2014. Die KMK muss die Vermittlung dieses Themas überarbeiten und auf die heutigen Anforderungen ausrichten. Wir brauchen Konzepte in der Schüler- und Lehrerbildung, die dem 21. Jahrhundert gerecht werden. Ein Expertenrat, der die gesellschaftlichen Entwicklungen im Hinblick auf Extremismus und Zuwanderung in Lehrplan und Fortbildung einarbeitet und als Anlaufstelle für Fragen zur Verfügung steht, ist Voraussetzung für diesen Erneuerungsprozess.
Drittens: Wir brauchen eine Intensivierung von Virtual wie Augmented Reality, Gamification, Serious Games und Kunst in den Schulen und den Gedenkstätten, um zielgruppengerecht und breiter aktives Erinnern zu fördern. Erinnerungskultur sollte die Vergangenheit aufarbeiten, um Lehren und den Blick für die Zukunft zu ermöglichen.
Thomas Hacker (FDP, Bayreuth) ist Obmann im Ausschuss Kultur und Medien der Freien Demokraten im Deutschland sowie Berichterstatter für Erinnerungspolitik.
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