Fortsetzungsroman: “Raststraße” von Joachim Kortner, Teil 7

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Der Arnulf

Eine schattige Allee nimmt ihn auf. Leicht und glatt lässt es sich hier dahin gleiten. Die kurze Steigung. Er steigt ab und schiebt. Muss unbedingt in die Kirche mit dem spitzen Turm hinein.

Erst vor zwei Tagen war er hier mit der ganzen Familie in die Messe gegangen. Er hatte sich geniert, weil sein Vater beim Singen so laut brüllte, dass er alle übertönte. Manche hatten sich umgedreht. Was sollten die Coburger über sie denken? Orgelmusik. Er schließt das Rad ab und steigt die Kirchenstufen hinauf. Die Tür weit offen. Die Orgel ist verstummt. Jakob duckt sich in der Bank. Hat er etwas Verbotenes getan? Jemand steigt von der Orgelempore über die knarrenden Holztreppen herab. Der Organist macht noch eine Kniebeuge, nimmt von dem Weihwasser.

Jetzt ist er allein.

Nachmittagssonne lässt die Farben der Kirchenfenster aufglühen.

Der blau wolkende Weihrauch der vergangenen Sonntagsmesse noch als Hauch zu erahnen. Er geht nach vorne, will ganz allein genau da sitzen, wo er am letzten Sonntag neben seiner Mutter gesessen hat. Erst jetzt fällt ihm dieser große Sarg auf, der im Mittelgang aufgestellt ist. Ein Tuch in verblichenem Schwarz fällt in weiten Falten auf den steingetäfelten Boden herab. Wenn ihn nicht das Brausen der Orgel hinein gelockt hätte, nie wäre er beim Anblick dieser schauerlichen Kiste hineingegangen.

Ein Toter liegt darin. Es muss ein Mann sein, denn sonst wäre der Kasten nicht so groß.

Nichts wie raus hier. Da dreht sich laut ein Schlüssel im Schnappschloss der Sakristei. Heraus kommt ein kleiner Mann mit dichtem Grauhaar. Er scheint einen Gehfehler zu haben, macht nur einen kurzen Knicks vor der Mitte des Altars und 2 humpelt auf den Sarg zu. Mit einer Hand zieht er das düstere Tuch herunter. Statt eines Sarges ein ungebeiztes Holzgerüst.

Mit den Außenkanten ahmt es die Sargform nach. Ohne das finstere Tuch berührt ihn der Angsthauch nicht mehr. Der kleine Mann faltet das Tuch akkurat zusammen. Wie Hausfrauen es mit Laken und Bettbezügen zu tun pflegen. Er legt es über die Kniebank der ersten Reihe. Erst jetzt entdeckt er den geduckten Jungen. Irgendetwas wie Schimpfen oder Wegjagen hatte Jakob erwartet.

Stattdessen beginnt der Mann, wie im Selbstgespräch, vor sich hin zu reden. Sagt, dass die meisten darunter einen Sarg vermuten und dass er der Mesner Arnulf sei, dass dieses komische Ding da Tumba heiße. Er wüsste auch nicht, warum. Mindestens hundert Mal habe er schon das Gestell auf – und wieder abgebaut.

Halt jedes Mal bei einer bestellten Totenmesse.

Was ein Mesner ist, hatte Jakob schon vor vier Jahren erfahren können. Der Herr Michalski hatte ihn und seinen Bruder Andi bei einem Bombenangriff von der Straße in einen fremden Luftschutzkeller gezerrt. Und der war ein Mesner. Aber der hatte damals einen Stahlhelm und eine Armbinde.

Der Arnulf hat das Holzgestell inzwischen in einzelne Latten zerlegt. Er klemmt sie sich unter die Arme, sagt, dass er gleich wieder da wäre und verschwindet in der Tür, die der Sakristei gegenüber liegt.

Jakob hat bis jetzt noch kein Wort gesprochen, behält trotzdem das Gefühl, sich mit dem Mann unterhalten zu haben. Wie selbstverständlich bleibt er sitzen, hört das hölzerne Gerumpel aus der offenen Tür und wartet auf den Arnulf.

Eine kurze, einladende Handbewegung. Jakob folgt dem hinkenden Arnulf in die Sakristei. In den Wandschränken hängen schneeweiße Chorröcke der Ministranten, weitärmelig mit breiten Spitzenbordüren, liegen samtene Kragen. Rot, schwarz, grün und violett. Säuberlich geschichtete Stapel. Die Messgewänder, in schlichtem Grün mit wallenden Falten, andere brettsteif in prächtigem Goldbrokat. Ehe sich Jakob an diesem Wunderreich satt sehen kann, hat der Arnulf schon einen schweren Schlüssel aus einem Wandkästchen geholt und hinkt zur Außentür der Sakristei.

An der Außenwand der Kirche geht er bis zu einem Kellerabgang voraus. Moosgrüne, feuchte Treppen. Der Arnulf steckt den Schlüssel ein. Die Tür knarrt nach innen auf.


Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße: Roman in Episoden

Raststraße

Roman in Episoden Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

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