Exper­te der Uni­ver­si­tät Bay­reuth warnt vor Fehl­an­rei­zen bei der Frei­hal­te­pau­scha­le für Krankenhausbetten

Symbolbild Bildung

Mit den stei­gen­den Infek­ti­ons­zah­len fül­len sich auch die Kran­ken­haus­bet­ten mit Coro­na-Pati­en­ten. Noch gilt die Situa­ti­on als beherrsch­bar, doch Fach­leu­te war­nen bereits vor einem Ende der Bet­ten-Kapa­zi­tä­ten. Die Anzahl der Inten­siv­bet­ten wur­de im Lau­fe des Jah­res zwar gestei­gert, aber oft fehlt schlicht das Per­so­nal, um die­se Bet­ten auch adäquat betreu­en zu kön­nen. Es stellt sich die Fra­ge, ob Bet­ten nur auf­ge­stellt wur­den, um Gel­der des Bun­des abzu­grei­fen. „Gra­vie­ren­de mora­li­sche Fehl­leis­tun­gen“ kri­ti­siert hier Prof. Dr. mult. Eck­hard Nagel, Inha­ber des Lehr­stuhls für Medi­zin­ma­nage­ment und Gesund­heits­wis­sen­schaf­ten und Direk­tor des gleich­na­mi­gen Insti­tuts an der Uni­ver­si­tät Bay­reuth, und mahnt im Inter­view an, öko­no­mi­sche Fehl­an­rei­ze zu vermeiden.

Die Bun­des­po­li­tik nimmt in der Coro­na-Kri­se sehr direkt Ein­fluss auf die Pla­nung der medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung in deut­schen Kran­ken­häu­sern. Wie ist dies zu erklä­ren und zu bewerten?

Was die Bun­des­re­gie­rung moti­viert hat, waren die schlim­men Bil­der aus Chi­na, Ita­li­en und dem Elsass. Sie haben deut­lich gemacht, dass auf­grund der schnel­len Zuwachs­ra­ten an Schwerst­kran­ken die Kran­ken­haus­ver­sor­gung kol­la­bo­rie­ren kann und lebens­ret­ten­de Behand­lungs­maß­nah­men nicht mehr­durch­führ­bar sind. Des­halb rief die Regie­rung die Kran­ken­häu­ser dazu auf, plan­ba­re und ver­schieb­ba­re Ein­grif­fe zunächst abzu­sa­gen und sich auf die Behand­lung von Corona-Patient*innen zu kon­zen­trie­ren. Eine sol­che staat­li­che Auf­for­de­rung ist für Deutsch­land etwas völ­lig Neu­es. Sie führ­te zu gra­vie­ren­den Ände­run­gen im Betrieb der Kli­ni­ken und ist zunächst posi­tiv zu bewerten.

Inwie­fern „posi­tiv“ und war­um nur „zunächst“?

Es gab im Früh­jahr kei­ne all­ge­mei­ne Über­las­tung der Kran­ken­häu­ser, und die Maß­nah­men haben sich gut aus­ge­wirkt auf die Mög­lich­kei­ten der Behand­lung und damit auf die Krank­heits­ver­läu­fe. Auch mit Blick auf die Sterb­lich­keit haben die Maß­nah­men eine gute Wir­kung erzielt. Nun muss man aber auch öko­no­mi­schen Fra­gen nach­ge­hen: Um Kran­ken­häu­ser nicht in eine abso­lu­te Schief­la­ge zu brin­gen, wur­den im Kran­ken­haus­fi­nan­zie­rungs­ge­setz ent­spre­chen­de Aus­gleichs­zah­lun­gen vor­ge­se­hen. Dar­an gibt es aber nun berech­tig­te Kritik.

Sie mei­nen die soge­nann­te „Frei­hal­te­pau­scha­len“. Was ist dar­un­ter zu ver­ste­hen und wie bewer­ten Sie diese?

Die Frei­hal­te­pau­scha­len sind zunächst ein Ver­such, Erlös­aus­fäl­le von Kran­ken­häu­sern zu kom­pen­sie­ren. Das erscheint grund­sätz­lich plau­si­bel, weil „wir“ – damit mei­ne ich den Staat, der hier im Sin­ne der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger han­delt – Kran­ken­häu­ser auf­ge­for­dert haben, Kapa­zi­tä­ten für die Behand­lung von Corona-Patient*innen frei­zu­hal­ten. Das ist mög­lich, indem geplan­te Behand­lun­gen, etwa nicht ganz dring­li­che Ope­ra­tio­nen, abge­sagt bzw. ver­scho­ben wer­den. Dafür steht den Kran­ken­häu­sern dann qua­si eine Ent­schä­di­gung zu.

Hät­te man statt Kapa­zi­tä­ten frei­zu­hal­ten nicht ein­fach mehr Kapa­zi­tä­ten für die Behand­lung einer grö­ße­ren Zahl an Patient*innen schaf­fen können?

Auch das ist ja Teil der Stra­te­gie, die die Bun­des­re­gie­rung im März auf den Weg gebracht hat: Der Aus­bau bestimm­ter medi­zi­ni­scher Kapa­zi­tä­ten zur Behand­lung von COVID 19 Patient*innen, wur­de bezu­schusst – 50.000 EUR für jedes zusätz­lich auf­ge­stell­te bzw. vor­ge­hal­te­ne Inten­siv­bett, in dem Patient*innen auch künst­lich beatmet wer­den kön­nen. Zudem wur­de die in der Pan­de­mie in grö­ße­ren Men­gen benö­tig­te Schutz­aus­rüs­tung bezu­schusst und das für den Bereich der Pfle­ge vor­ge­se­he­ne Basis­en­t­gelt erhöht.

Wie erklärt sich dann die aktu­el­le Dis­kus­si­on um Ent­schä­di­gun­gen? Wenn der Gesetz­ge­ber schon im März alles gere­gelt hat, besteht doch jetzt kein Anlass dazu.

In der Zwi­schen­zeit zeigt sich, dass die pau­scha­le Ent­schä­di­gung mit­un­ter auch miss­braucht wur­de. Durch das Frei­hal­ten von Bet­ten haben eini­ge Kran­ken­häu­ser mehr Erlö­se erzielt, als wenn sie Patient*innen behan­delt hät­ten. Das ist aus mei­ner Sicht eine gra­vie­ren­de mora­li­sche Fehl­leis­tung. Denn das öko­no­mi­sche Ziel­kri­te­ri­um war natür­lich nicht Erlö­se aus Steu­er­mit­teln zu stei­gern und gleich­zei­tig Patient*innen not­wen­di­ge Behand­lun­gen vor­zu­ent­hal­ten. Ins­ge­samt ver­zeich­nen die Kran­ken­häu­ser durch die bun­des­wei­te Frei­hal­te­pau­scha­le einen Zuwachs an Erlö­sen, bei deut­lich redu­zier­ter Pati­en­ten­be­hand­lung. Gera­de­zu para­dox erscheint, dass jene Kli­ni­ken, die die meis­ten Corona-Patient*innen ver­sorgt haben, finan­zi­ell am schlech­tes­ten davonkommen.

Das bedeu­tet also, dass die pau­scha­len Zah­lun­gen nicht nur die gewünsch­ten Effek­te hat­ten, son­dern auch uner­wünsch­te Nebenwirkungen?

Man konn­te rela­tiv schnell erken­nen: Bet­ten sind ver­mehrt dort frei­ge­hal­ten wor­den, wo nor­ma­ler­wei­se weni­ger schwer­kran­ke Patient*innen behan­delt wer­den. Denn hier konn­ten mehr Erlö­se durch die Pau­scha­le als durch die Behand­lung erzielt wer­den. Das ist ein klas­si­scher öko­no­mi­scher Fehlanreiz.

Wer hat beson­ders profitiert? 

Das Risi­ko von uner­wünsch­ten Wir­kun­gen besteht ja immer, wenn finan­zi­el­le Anrei­ze gesetzt wer­den. Des­halb ist es auch so wich­tig, dass die Rege­lun­gen stets fach­lich beglei­tet wer­den – gera­de bezüg­lich uner­wünsch­ter „Neben­wir­kun­gen“. Das ist in der Öko­no­mie nicht anders als in der Medi­zin. Im Hin­blick auf Kran­ken­häu­ser kann man erken­nen, dass jene, die sich rein öko­no­misch kon­sti­tu­ie­ren und aus­rich­ten, aus der Coro­na-Kri­se unbe­scha­det her­vor­ge­hen dürf­ten. Jene, die sich aber stär­ker auf die Pati­en­ten­ver­sor­gung kon­zen­trie­ren, gehen mit einem nicht uner­heb­li­chen Ver­lust aus der Pan­de­mie. Und das sieht man auch im Bereich der Kapa­zi­tät inten­siv­me­di­zi­ni­scher Betreu­ung. Was nut­zen Inten­siv­bet­ten, die nicht adäquat ärzt­lich und pfle­ge­risch betreut wer­den kön­nen? Schon vor der Pan­de­mie war Per­so­nal knapp, jetzt fal­len vie­le Ärzt*innen und Pfleger*innen zusätz­lich aus – weil Sie sich mit dem Coro­na-Virus ange­steckt haben oder der Ver­dacht besteht.

Wie soll man mit sol­chen öko­no­mi­schen Fehl­an­rei­zen umgehen?

Nach­dem die beschrie­be­nen Fehl­an­rei­ze erkannt wur­den, ist ein dif­fe­ren­zier­te­res Sys­tem ein­ge­führt wor­den: Seit Juli wur­de die Höhe der Aus­gleichs­pau­scha­le in fünf Stu­fen bes­ser an den Bedarf einer Kli­nik ange­passt. Man hat die Frei­hal­te­pau­scha­len und die Pau­scha­le für zusätz­li­che Inten­siv­bet­ten zunächst bis 30. Sep­tem­ber bewil­ligt – weil man davon aus­ging, dass sich die Ver­sor­gung der Patient*innen bis zu die­sem Zeit­punkt wie­der sta­bi­li­siert hat. Das ist aber nicht der Fall. Die zwei­te Wel­le der Pan­de­mie stellt die Kran­ken­häu­ser vor erheb­li­che wei­te­re Auf­ga­ben. Seit Mit­te Novem­ber gibt es ein öko­no­misch ziel­ge­naue­res Sys­tem, um fest­zu­le­gen, wel­che Kran­ken­häu­ser Kom­pen­sa­ti­ons­zah­lun­gen bekom­men. Das ist sicher sachgerechter.

Ist das Pro­blem der Fehl­an­rei­ze damit behoben?

Theo­re­tisch, aber man muss auch hier über­prü­fen, wel­che erwünsch­ten und uner­wünsch­ten Effek­te mit die­sem Sys­tem ein­her­ge­hen. Am Anfang der Kri­se hat man schnell reagie­ren müs­sen, Schnell­schüs­se sind immer feh­ler­be­haf­tet. Das muss man respek­tie­ren. Aber ich den­ke, man hät­te viel frü­her gegen­steu­ern sol­len, um die Fehl­an­rei­ze und die damit ver­bun­de­nen enor­men Kos­ten schnel­ler ein­zu­gren­zen. Gera­de unter dem Ein­druck der Pan­de­mie ist es mir völ­lig unver­ständ­lich, dass eini­ge Kli­ni­ken Kapa­zi­tä­ten redu­ziert haben um Aus­gleichs­zah­lun­gen zu erhal­ten: Not­wen­di­ge Behand­lun­gen von Erkran­kun­gen, die auch durch die Pan­de­mie mit­be­dingt sein kön­nen, stan­den damit nicht zur Ver­fü­gung. Hier zeigt sich, dass öko­no­mi­sche Anreiz­sys­te­me erheb­li­che nega­ti­ve Neben­wir­kun­gen haben kön­nen. Des­halb braucht es stets die zeit­na­he Beglei­tung durch Fach­leu­te, die schnell gegen­steu­ern kön­nen. Für die Gesund­heits­öko­no­mie heißt das: Die öko­no­mi­sche Ver­nunft muss sich an den medi­zi­ni­schen Ergeb­nis­sen mes­sen las­sen und nicht umge­kehrt. Zukünf­tig ist es in jedem Fall not­wen­dig und gerecht­fer­tigt, die Behand­lung von Corona-Patient*innen aus­rei­chend zu bezah­len. Gleich­zei­tig dür­fen in ande­ren Berei­chen kei­ne Anrei­ze gesetzt wer­den, not­wen­di­ge medi­zi­ni­sche Maß­nah­men zu unterlassen.