Fortsetzungsroman: „Raststraße“ von Joachim Kortner, Teil 1

Joachim Kortner: Raststraße. Roman in Episoden.

Romanepisoden von Joachim Kortner

Ankunft 16.13

Die monotonen Schienenschläge haben ihn müde gemacht. Seine Mutter schmunzelt. Jakob ist schon neun und schläft, an ihre Seite gelehnt. Wie ein kleines Kind. Seine älteren Brüder Gunther und Andi blicken aus dem Zug und sprechen über den Westen.

Dass hier alles besser ist. Besser als auf diesem Scheißkaff in der Russenzone. Dörfer fahren an ihnen vorüber und lächeln ihnen freundlich zu.

Dieses verfluchte Jahr. Alle Wege nach dem goldenen Westen hatten sie abgesperrt. Dieses Dorf, in das der Krieg sie mit den Jungen verschlagen hatte, jetzt eine Lebendfalle. Ihren Herrmann würde sie niemals wieder sehen. Und die Jungen nicht ihren Vater.

Zuerst nur ein Dorfgerücht. Eingesperrt – abgeriegelt. Solche Wörter hatten die Runde gemacht. Aber jetzt hatte es irgendjemand auch noch auf einem Westberliner Sender gehört. Nichts wie raus hier. Aber wie? Die Frau Snura aus Berlin wohnte im britischen Sektor.

Die wusste, was in der Hölle kochte.

Die war findig, mit allen Wassern gewaschen.

Die wusste, wem man wie viel zu geben hatte, um etwas zu erfahren oder zu kriegen. Ihr musste sie sich anvertrauen.

***

Ohne ihren armamputierten Fluchthelfer hätten sie es nicht geschafft.

Die schlanke Gestalt, der Soldatenmantel knöchellang.

Seine kultivierte Art, der feste Händedruck, sein offener Blick.

Die immer noch militärisch knappe Sprache.

Ein Kavalier der alten Schule. Dass es so etwas noch gab. War man ja nicht mehr gewohnt. Ein Ritterkreuzträger soll er sein, umflüsterte ihn ein Gerücht.

Erst einmal überhaupt bis zur Zonengrenze. Und dann durch den novemberkalten Fluss.

***

Hundert Mark an die Vermittler und Weiterleiter. Später noch einmal hundert Mark an den Fluchthelfer. Aber als es dann so weit war, war alles ganz anders gekommen. Einfach beispiellos.

Ein deutscher Offizier nimmt kein Geld.

Trocken, ohne vorwurfsvollen Unterton hatte er das zu ihr gesagt, sich dann umgedreht. Wurde von der stürmischen Nacht verschluckt. Und sie war dagestanden mit ihrem Hunderter. Hatte sich noch im Dunklen geschämt, hatte ihr rotes Gesicht heiß gespürt.

Ein armes Schwein.

Einer, der jetzt noch, Jahre nach dem Krieg, mit seinem abgewetzten Soldatenmantel herumläuft.

Ein elender Kriegskrüppel, der nach keinem Pfennig stinkt. Und so einer lässt einen Hunderter sausen. Einen Hunderter, den er sich unter Lebensgefahr verdient hat.

Die nächtlichen Grenzpatrouillen, so heißt es, wärmen sich am Wodka, schießen mit der MP ohne Anruf. Pilzsammler flüstern von bekleideten Skeletten, von Schädelknochen mit runden Löchern.

***

Ihr Kopf sinkt in das Futter des Mantels am Haken. Erinnerungsbilder schwimmen in einen Traum hinüber.

Mit einem Hundertmarkschein, handtuchgroß und brettsteif, rennt sie dem langen Soldatenmantel nach. In die schwärzeste Finsternis hinein. Schreit stumm seinen Namen heraus. Er schwebt über dem Waldweg, blickt ruhig und ernst auf sie herab.

Die leeren Ärmel des Offiziersmantels flattern wie lappige Fahnen. Aus dem Koppelschloss des Gürtels funkelt sein Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten, blendet sie mit Edelsteinstrahlen. Sie ist gelähmt. Ihr Hundertmarkschein zu Kaufladenspielgeld geworden. Sie öffnet den Mund zum Schrei.

Gunther, ihr Zweitältester, hält sie an den Oberarmen, rüttelt sie sanft.

Mama, wir sind im Westen.

Schienenstöße, das Rauschen der Fahrt, ein greller Pfiff der Lok. Sie ist wieder bei sich. An beiden Oberarmen wird sie morgen schon blaue Flecken bekommen. Später werden die dann grün und noch später gelb sein. Das weiß sie. Das hatte sie schon immer gehabt, diese schreckliche Bindegewebsschwäche.

Bei jedem Dreck ein blauer Fleck – schon ein geflügelter Familienspruch.

Aber stolz, dass ihr Gunther schon so ein kräftiger Kerl geworden war. Und wie behutsam er sie aus ihrem Hundertmarkschein- Traum herauf geholt hat.

Mama, die Burg, die Burg, das muss sie sein, die Coburg.

Andi ist ganz aufgewühlt, presst sein Gesicht an die Scheibe.

Die anderen Fahrgäste zeigen wohlmeinendes Lächeln, flüstern einander zu. Gunther und Jakob wischen sich angelaufene Ecken mit den Ärmeln klar. Die Mutter muss auch ans Zugfenster kommen, sich der Bewunderung anschließen. Sie legt den Zeigefinger auf den Mund, will andere Leute nicht belästigen.

Diese unvergleichliche Burg schaut von einem Berg auf sie herab.

Kommt näher, bietet ihnen immer neue Seiten zum Bestaunen.

Türme, rot und dunkel gedeckt, von einer massigen Mauer zusammengefasst. Darunter ein spätherbstlich gefärbter Wald.

Der Zug fährt eine Kurve, verliert Fahrt, rattert über Weichen, rollt aus, Bremsen kreischen. Der Bahnhofslautsprecher plärrt etwas von Endstation. Hedwig hält die Jungen zurück. Vorrang für die Einheimischen. Auf dem Bahnsteig die Normaluhr.

Gleich viertel fünf.

***

Genau um diese Zeit hatte sie sich früher immer am Montag mit ihrer Schulfreundin Else Michalsky getroffen. In diesem vornehmen Café am Marktplatz von Oppeln. Zitronenkremtorte, ein Glas Tee. Tee war was Besonderes.

Und die jungen Fräuleins, wie üblich.

Sie waren keine Kinder mehr, wollten aber noch keine Erwachsenen sein.

***

Kein Wunder, dass man mit dem schäbigen Gepäck auffällt.

Hier tragen die Leute Lederkoffer. Frauen im Kostüm, Männer mit Hut, Krawatte, Anzug. Schuhe glänzen.

Ein breiter Treppenabgang, die Unterführung, die ovale Bahnhofshalle.

Mit Schalter, Kiosk, Gepäckaufbewahrung, einer Uhr über dem Ausgang. Dem Bahnhof gegenüber links und rechts die beiden noblen Hotels.

Andi hat nur Augen für seine Burg, deutet zu ihr hinauf. Ruft wieder laut Die Coburg. Leute drehen sich um.

Wie man denn bitte zur Lutherschule kommt, dem Flüchtlingslager.

Erste Straße rechts, über eine Brücke bis zu einem Turm.

Am Markt noch mal fragen.

Ein olivgrüner, hochachsiger Amilaster. Die Rußfahne aus dem Rohr über dem Fahrerhaus. Unter der offenen Flatterplane winken zwei schwarze Arme, blitzt das Lächeln aus wulstigen Lippen und schneeweißen Zähnen. Jakob dreht sich um, begreift nicht, dass es ihm gilt. Eine kleines, grünes Ding schmeißen sie ihm zu. Er denkt, dass die was verloren haben. Der nächste LKW fährt das Ding platt.

Die Brüder sind mit der Mama schon viel weiter. Dass er immer der Letzte sein muss.


Raststraße: Roman in Episoden

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Raststraße

Roman in Episoden
Joachim Kortner

  • Paperback
  • 244 Seiten
  • ISBN-13: 9783833489839
  • Verlag: Books on Demand
  • Erscheinungsdatum: 28.04.2008
  • Sprache: Deutsch
  • Farbe: Nein

Bestellung (Paperback & E-Book): https://www.bod.de/buchshop/raststrasse-joachim-kortner-9783833489839