Das „Kriechende Netzblatt“ ist die Orchidee des Jahres 2021
Das Kriechende Netzblatt – ein Verlierer der Klimaentwicklung
Die Arbeitskreise Heimische Orchideen der Bundesrepublik Deutschland haben für das Jahr 2021 das Kriechende Netzblatt (Goodyera repens) zur Orchidee des Jahres gewählt, um auf die vielfältigen Gefährdungsursachen dieser Art hinzuweisen. Seinen Namen erhielt die Spezies von dem im 17. Jahrhundert in Oxford lebenden Botaniker John Goodyer (1592-1664). Der Artname repens stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „kriechend“. Er bezieht sich auf den im Moos kriechende Wurzelstock.
Einige Orchideen zeichnen sich durch attraktiv gezeichnete, vielfach auffällige und farbnervige Blätter aus, sodass sie umgangssprachlich als „Juwelen-Orchideen“ bezeichnet werden, da sie eher durch prächtiges Blattwerk als durch spektakuläre Blüten glänzen; das zierliche Kriechende Netzblatt gehört dazu. Die netzartige Nervatur der Laubblätter, für Orchideen völlig unüblich, brachte der Pflanze ihren deutschen Namen ein. Wenn dann noch eine größere Anzahl solcher Blattrosetten dicht beisammensteht, werden schön gemusterte kleine Blatt-Teppiche gebildet, die aus dem moosigen Untergrund kontrastreich hervortreten. Nicht wie die meisten Orchideen unserer Region Knollen bildend, gedeiht das Kriechende Netzblatt als Staude mit wurmähnlichem, lang gestrecktem, filzigen Wurzelstock. Die Fähigkeit, Ausläufer und damit neue Pflanzen zu bilden, ermöglicht eine vegetative Vermehrung, die für die Art mindestens ebenso wichtig ist wie die Vermehrung durch Samen. Sehr individuenreiche Bestände sind wohl in den meisten Fällen auf vegetative Vermehrung zurückzuführen.
Das Kriechende Netzblatt steht in der Fränkischen Schweiz je nach Witterungsverhältnissen von Ende Juni bis Ende Juli in Blüte. Die nur zirka acht Millimeter großen, weißen bis zart elfenbeinfarbenen Blüten sind fein, aber dicht behaart, ein wahres Meisterstück an Filigranarbeit. Die feine Struktur der Blütenblätter entsteht durch winzige Drüsenhaare auf deren Außenseite. Die ungeteilte Lippe zeigt an der Basis eine nektargefüllte Vertiefung und läuft, rinnig gefaltet, nach vorn spitz zu, wodurch dem Insektenrüssel beim Blütenbesuch der Weg gewiesen wird.
Während der Winterzeit und im Vorfrühling lohnt es sich, nach dem Kriechenden Netzblatt zu suchen, denn die grünen Blattrosetten fallen sofort auf, weil sie sich vom Graubraun der umgebenden, abgestorbenen Vegetation gut abheben. Dann sind auch die heller gefärbten Blattnerven gut zu erkennen. Gegenüber ihren attraktiveren Verwandten besitzt die kleine Waldorchidee eine Besonderheit, die ihr das Überleben in unserer Kulturlandschaft lange Zeit sicherte: diese Orchidee gehört nicht zu den „Kulturflüchtern“, wie die Mehrzahl ihrer heimischen Verwandten, sondern zu den „Kulturfolgern“, da sie mit Vorliebe die von Menschenhand mit Nadelwald aufgeforsteten Kalktriften und Hutungen besiedelt.
In der Fränkischen Schweiz wächst das Kriechende Netzblatt in mehr oder weniger großen Herden in schattigen bis halbsonnigen vermoosten Forsten der Waldkiefer auf frischen Kalkböden. Überalterte oder grasreiche Nadelholzforste bieten der konkurrenzschwachen Pflanze kaum Lebensraum. Wie langjährige Beobachtungen zeigen, findet die Orchidee des Jahres 2021 in einer jugendlichen Altersklasse des Waldes ihr Existenzoptimum. Gut besetzte Wuchsorte kann man in der Fränkischen Schweiz im Ailsbachtal, bei Pottenstein sowie auf der Hohen Leite antreffen.
Als Bestäuber der kleinen Blüten konnte sowohl die Erdhummel als auch die Honigbiene nachgewiesen werden. Die Tiere patrouillieren ständig auf Nahrungssuche am Waldrand und werden dabei offensichtlich durch einen für die Nahwirkung wichtigen, artspezifischen Duftstoff angelockt. Die großen Hummeln passen überhaupt nicht zu den kleinen Netzblatt-Blüten. Trotzdem zeichnen sie sich als sehr gute Bestäuber aus, weil die Insekten sehr emsig sind, viele Blüten pro Pflanze inspizieren und so in kurzer Zeit viele bestäuben können.
Nachdem das Kriechende Netzblatt in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts durch weit verbreitete Kiefernaufforstungen zunächst profitierte und im Bestand zunahm, gingen die Vorkommen bereits um die Jahrtausendwende stark zurück, weil viele Kiefernforste sich auf natürliche Weise zu Mischwäldern weiterentwickeln oder weil aufgrund forstlicher Maßnahmen diese Entwicklung gefördert und beschleunigt wurde. Im 21. Jahrhundert kamen dann zunehmend heiße und trockene Sommer als Gefährdungsursache hinzu. An vielen Wuchsorten trocknete das Moos zeitweise aus, wodurch der Orchidee die Lebensgrundlage entzogen wird, da sie oberflächennah in der Moosschicht wurzelt und auf deren Feuchtigkeit angewiesen ist. Aus diesem Grund sind viele größere Bestände bereits stark dezimiert, etliche Kleinvorkommen ganz erloschen. Damit ist das Kriechende Netzblatt in der Fränkischen Schweiz in besonderer Weise ein Verlierer der Klimaentwicklung der letzten Jahre.
Adolf Riechelmann
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