Experte der Universität Bayreuth zu Corona-Maßnahmen: „Parlamente müssen endlich mehr Verantwortung übernehmen.“
Nicht nur die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie geraten in die Diskussion, in den Mittelpunkt rückt jetzt ihr Zustandekommen. Ein Kenner des Verfassungsstaats und seiner Herausforderungen in der Corona-Krise ist Prof. Dr. Stephan Rixen, Mitglied des Deutschen Ethikrats und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialwirtschafts- und Gesundheitsrecht an der Universität Bayreuth.
Zahlreiche Politiker aus allen Lagern beklagen, die Regierung entscheide aktuell am Parlament vorbei. Ist das Geltungsdrang oder berechtigte, verfassungsrechtlich begründete Kritik?
Ich glaube, man sollte diese Kritik nicht als Geltungsdrang abtun. Es geht doch darum, wie es in der Corona-Pandemie weitergeht. Das sind Grundfragen eines Gemeinweisens, die vernünftigerweise auch und gerade im Parlament diskutiert werden sollten. In einer parlamentarischen Demokratie wie der unseren drängt sich das auf.
Rechtfertigt die aktuelle Lage, dass die Exekutive derzeit so viel Einfluss hat?
Die Corona-Pandemie ist durch tagesaktuelle Veränderungen geprägt, das ist eine hochdynamische Lage, da müssen wir mit permanenter Vorläufigkeit fertig werden. Die Exekutive kann darauf schneller reagieren. Das schließt aber nicht aus, dass der Bundestag, aber auch die Landtage stärker als bisher zum Forum werden, in dem die großen Linien bei der Bewältigung der Corona-Pandemie debattiert werden.
Wo liegen in Ihren Augen die Gefahren einer starken Exekutive?
Ich würde nicht von Gefahren sprechen, denn die Exekutive handelt ja nicht willkürlich, sondern im Rahmen demokratisch legitimierter Gesetze. Und deren Anwendung wird von unabhängigen Gerichten effektiv kontrolliert, wie die jüngsten Entscheidungen zu den Beherbergungsverboten ja zeigen.
Ein MdB sagt, die Treffen der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten stünden nicht in der Verfassung. Stimmt das? Sind die Entscheidungen solcher Runden denn dann überhaupt bindend?
Seit 1949, dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, haben sich viele politische Gewohnheiten entwickelt, die den Text des Grundgesetzes sinnvoll ergänzen. Im Verhältnis Bund/Länder spricht man vom „kooperativen Föderalismus“. Dass sich die Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten trifft, gehört dazu. Rechtlich bindend ist das aber nicht.
Wie schätzen Sie die Tatsache ein, dass etliche Entscheidungen von Gerichten kassiert wurden? Sorgt jetzt die Judikative dafür, dass die Legislative ihre Rolle gegenüber der Exekutive wieder einnimmt?
Wenn man bedenkt, dass in Bund und Ländern hunderte Verordnungen und noch mehr Allgemein- und Einzelverfügungen ergangen sind, dann verwundert es nicht, dass auch die Gerichte angerufen werden. Das gehört zur Normalität des Rechtsstaates. Gerichte dürfen politisch Verantwortlichen natürlich nicht vorschreiben, was politisch klug ist. Aber Legislative und Exekutive tun gut daran, Gerichtsentscheidungen über den konkreten Fall hinaus ernst zu nehmen: als Chance für Selbstkritik und als Chance für noch besser begründete Maßnahmen.
Ist jetzt, in der zweiten Infektionswelle eine Abkehr von der bisherigen Praxis der erweiterten Befugnisse für die Exekutive überhaupt realistisch?
Das ist nicht realistisch, denn die zuständigen Ministerien, aber auch die Behörden vor Ort, können einfach schneller agieren als Parlamente. Parlamente sind eine Art demokratischer Katalysator: Sie müssen die gesamtgesellschaftliche Stimmung aufgreifen, bündeln und darauf reagieren. Wo sie das tun, stärken sie das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen.
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