Friedrich-Alexander-Universität: Wie sich Neandertaler an das Klima anpassten“
Deutsch-italienisches Forschungsprojekt untersucht unterschiedliche Schneidewerkzeuge aus der Sesselfelsgrotte
Klimaveränderungen kurz vor ihrem Verschwinden lösten bei den späten Neandertalern in Europa eine komplexe Verhaltensänderung aus: Sie entwickelten ihre Werkzeuge weiter. Das hat eine Forschungsgruppe der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und der Università degli Studi die Ferrara (UNIFE) anhand von Funden in der niederbayrischen Sesselfelsgrotte herausgefunden. Die Archäologen haben ihre Forschungsergebnisse nun in der Fachzeitschrift PLOS ONE veröffentlicht *.
Neandertaler lebten in einem Zeitraum von etwa 400.000 bis 40.000 Jahren in weiten Teilen Europas und des Nahen Ostens bis an den Rand Sibiriens. Werkzeuge stellten sie aus Holz und glasartigen Gesteinsmaterialien her, die sie zum Teil auch zu kombinierten, etwa um einen Speer mit einer scharfen und zugleich harten Spitze aus Stein zu versehen. Ab etwa 100.000 Jahren vor der heutigen Zeit war ihr Universalwerkzeug zum Schneiden und Schaben ein Messer aus Stein, bei dem der Griff bereits durch eine stumpfe Kante am Stück selber angelegt war. Solche sogenannten „Keilmesser“ gab es in verschiedenen Formen – und die Frage ist: Warum stellten Neandertaler ihre Messer auf so unterschiedliche Weise her? Benutzten sie die Messer für verschiedene Tätigkeiten oder stammen die Messer von verschiedenen Untergruppen der Neandertaler? Diese Thematik stand im Mittelpunkt des internationalen Forschungsprojekts.
Keilmesser als Antwort
„Keilmesser sind eine Reaktion auf die hochmobile Lebensweise während der ersten Hälfte der letzten Eiszeit. Sie ermöglichten durch Nachschärfen eine lange Nutzung und waren gleichzeitig ein Universalwerkzeug – fast wie ein Schweizer Survivalmesser“, sagt Prof. Dr. Thorsten Uthmeier vom Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte der FAU. „Dabei wird aber oft vergessen, dass es nicht nur Keilmesser gab. Messer mit Rücken aus der Zeit der Neandertaler weisen eine überraschend große Variabilität auf“, ergänzt sein italienischer Kollege Dr. Davide Delpiano von der Sezione di Scienze Preistoriche e Antropologiche an der UNIFE. „Unsere Forschungen nutzen die Möglichkeiten der digitalen Analyse von 3D-Modellen, um auf statistischem Weg Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Messerformen herauszuarbeiten.“ Die beiden Wissenschaftler untersuchten Artefakte aus einer der wichtigsten Neandertaler-Fundstellen in Mittel-Europa, der Sesselfelsgrotte in Niederbayern. In der Grotte wurden bei Ausgrabungen durch den Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte der FAU über 100.000 Artefakte und unzählige Jagdbeutereste des Neandertalers gefunden – sogar die Überreste einer Neandertaler-Bestattung konnten geborgen werden. Die wichtigsten messerartigen Werkzeuge analysierten die Forscher nun mit 3D-Scans, die in Kooperation mit Prof. Dr. Marc Stamminger und Dr. Frank Bauer vom Lehrstuhl für Informatik 9 (Graphische Datenverarbeitung) am Department Informatik der FAU angefertigt wurden. Sie ermöglichen eine millimetergenaue Aufzeichnung der Werkzeugform und -eigenschaften.
„Das technische Repertoire bei der Herstellung der Keilmesser ist nicht nur ein direkter Beweis für die hohen planerischen Fähigkeiten unserer ausgestorbenen Verwandten, sondern zugleich eine strategische Reaktion auf die Einschränkungen, die ihnen durch die Widrigkeiten der Natur auferlegt wurden“, sagt Uthmeier, FAU-Professor für Ältere Urgeschichte und Ökologie prähistorischer Jäger und Sammler.
Anderes Klima, andere Werkzeuge
Was Uthmeier als „Widrigkeiten der Natur“ bezeichnet, sind Klimaveränderungen nach dem Ende der letzten Warmzeit vor mehr als 100.000 Jahren. Besonders gravierende Kaltphasen während der darauffolgenden Weichsel-Kaltzeit begannen vor mehr als 60.000 Jahren und führten zu einer Verknappung der natürlichen Ressourcen. Um zu überleben, mussten die Neandertaler mobiler sein als zuvor – und ihre Werkzeuge anpassen.
Wahrscheinlich ahmten die Neandertaler die Funktionalität von unifazialen – also einseitig gestalteten – Messern mit Rücken nach und entwickelten auf dieser Grundlage die auf beiden Seiten behauenen, bifazial geformten Keilmesser. „Das zeigt sich insbesondere an Übereinstimmungen an der Schneide, die in beiden Fällen aus einer flachen Unterseite und einer konvexen Oberseite besteht und vor allem für Schneidaktivitäten mit Längsbewegung geeignet war – daher ist die Bezeichnung als Messer durchaus richtig “, sagt Davide Delpiano von der UNIFE.
Beide Messerarten – die älteren einfachen und die neu hinzukommenden, deutlich komplexeren Keilmesser – haben offensichtlich die gleiche Funktionalität. Der wichtigste Unterscheid zwischen den beiden untersuchten Werkzeugtypen ist die höhere Lebensdauer von Bifazial-Werkzeugen. Keilmesser repräsentieren daher ein Hightech-Konzept für ein langlebiges, multifunktionales Werkzeug, das ohne weitere Zusatzausstattung wie etwa einem Griff aus Holz benutzt werden konnte.
„Studien anderer Forschungsgruppen scheinen unsere Interpretation zu unterstützen“, sagt Uthmeier. „An einem Mangel an Innovationsfähigkeit oder planerischen Denkens, wie manchmal behauptet, kann das Verschwinden der Neandertaler jedenfalls nicht gelegen haben.“
*https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0236548
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