Mittelfranken: Corona-Krise legt Versäumnisse der Vergangenheit offen – Einschätzungen und Forderungen der DGB-Mitgliedsgewerkschaften in Mittelfranken
Zu Beginn der Pressekonferenz heute im Gewerkschaftshaus Nürnberg illustriert DGB-Regionsgeschäftsführer Stephan Doll die Krisendynamik anhand der steigenden Arbeitslosenzahlen in den Arbeitsagenturbezirken in Mittelfranken. Die Steigerung zum Vorjahresmonat Juni ist enorm: für Nürnberg liegt sie bei 77, für Fürth bei 72 und für Ansbach-Weißenburg bei 57 Prozent. Die Zahl der Betriebe, die Kurzarbeit angezeigt habt lag im Juni bei fast 20.000. „Diese Zahlen verdeutlichen wie massiv wir betroffen sind und übersteigen den Einbruch im Vergleich zu den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise von vor zehn Jahren um ein Vielfaches“, sagt Doll.
Besondere Anerkennung verdienen aus Sicht von Doll die Beschäftigten in der Arbeitsverwaltung. „Sie haben unglaubliches geleistet, bei der raschen Bearbeitung und Auszahlung des Kurzarbeitergeldes. Ihnen gebührt große Anerkennung. Auch sie sind systemrelevant. Dies zeigt, wie wichtig ein starker Staat für die Menschen ist“, sagt Doll.
Sehr kritisch ist die Situation im Zuständigkeitsbereich der IG Metall. „Kaum ein Bereich, der nicht betroffen ist von der Krise“, sagt Andreas Weidemann, Erster Bevollmächtigter in Nürnberg. „Leiharbeiter sind die ersten, die gehen mussten, wovor wir schon immer warnten.“ Im Flugzeugbau werde die Krise Jahre dauern, im Maschinenbau zeichne sie sich immer deutlicher ab, nachdem alte Aufträge abgearbeitet sind und neue zurückgehen. Weidemann sieht düstere Wolken aufziehen: „Es steht zu befürchten, dass Strukturen zerschlagen werden und Massenarbeitslosigkeit droht.“ Er sieht aber auch Positives: „In Betrieben mit starken Betriebsräten und einer starken Gewerkschaft konnten Verluste durch Aufzahlung bis auf hundert Prozent beim Kurzarbeitergeld verhindert werden“, zeigt sich der oberste Metallgewerkschafter in Nürnberg zufrieden. Für die Zukunft ist der Vorschlag von Ministerpräsident Söder, Nürnberg zum Kompetenzzentrum für Wasserstoff zu etablieren, „sehr unterstützenswert“ ebenso die Forschung bei MAN, die durch Wasserstoff gewonnene Energie für Lkws nutzbar zu machen.
Für Regina Schleser, Geschäftsführerin der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), zeigt sich die prekäre Situation im Gastgewerbe nun noch deutlicher als vor der Krise. „Es gibt kaum Betriebe mit Tarifbindung. Betriebsräte sind eine Seltenheit in der Tourismusstadt Nürnberg.“ Eine Aufzahlung beim Kurzarbeitergeld wäre gerade bei dem niedrigen Gehaltsniveau „dringend nötig, konnte aber nicht durch gesetzt werden“, sagt Schleser und bedauert den mangelnden Willen der Arbeitgeber. Manche von ihnen, scheinen nach Einschätzung Schlesers noch „alte Rechnungen“ offen zu haben: Bei Wiedereinstellungen werde eher auf die Schweigsamen zurückgegriffen und weniger auf Gewerkschafterinnen, die in der Vergangenheit für ihrer Rechte gestritten hätten.
Positiv sieht die NGG-Geschäftsführerin den gestrigen Beschluss im Kabinett der Bundesregierung, Werkverträge in der Fleischindustrie zu verbieten. Kritisch sieht sie jedoch die Einschränkungen beim Geltungsbereich. Betroffen von diesem Verbot sollen erst Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten sein. „Das eröffnet Schlupflöcher“, befürchtet Schleser. Geradezu lächerlich findet sie Argumente von Arbeitgebern, die Fleischindustrie ins Ausland zu verlagern. „Die Löhne sind sowieso schon mit die niedrigsten in Europa. Zudem sind sie in den letzten 20 Jahren inflationsbereinigt in Deutschland nicht gestiegen. Fleisch ist bei uns billiger als Klopapier“, spitzt Schleser zu.
„Der Applaus für die Beschäftigten beispielsweise in der Pflege war enorm wichtig“, sagt ver.di-Bezirksgeschäftsführerin Rita Wittann. Im Hinblick auf die im September anstehende Tarifrunde im öffentlichen Dienst warnt Wittmann, dass jetzt schon freie Stellen nicht mehr besetzt werden können, weil die Gehälter zu niedrig und Stellen somit zu unattraktiv seien. „Die Beschäftigten haben den Applaus noch in den Ohren, wenn sich jedoch der Verband der kommunalen Arbeitgeber nicht bewegt, wird es zu massiven Konflikten in diesem Land kommen“, prophezeit Wittmann. Es stehe aus ihrer Sicht die Frage im Raum: Ich welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Große Sorge bereitet Gewerkschaftssekretärin Lena Zimmermann von der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) der Gesundheitsschutz. „Die Einhaltung der Hygienevorschriften am Bau durch die Arbeitgeber ist nur sehr unzureichend.“ Notfalls müsse der Staat mit Kontrollen eingreifen, fordert sie. Die Baubranche verzeichne nach wie vor große Zuwächse. „Deshalb ist die derzeitige Blockhaltung der Arbeitgeberseite bei geforderten Tarifsteigerungen völlig aberwitzig“, sagt Zimmermann. Zudem: „Es ist nicht nachvollziebar, dass vor allem die Ausbildung nahezu eingestellt wurde und gleichzeitig über einen Fachkräftemangel gejammert wird.“
Die Beurteilung der Pandemie durch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) fasst Gewerkschaftssekretär Sebastian Henn so zusammen: „Wir sind durch das Wasser gelaufen, aber nicht nass geworden.“ Dies führt er zurück auf die starke Verankerung seiner Gewerkschaft in den Betrieben der Bahn. Stolz sei man auf das Verhandlungsergebnis, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen wegen Corona geben und an den Investitionsvorhaben in die Infrastruktur festgehalten werde.
Abschließend verweist DGB-Chef Stephan Doll darauf, dass die seit langen bestehenden Probleme am Arbeitsmarkt mit seinen prekären Beschäftigungsverhältnissen durch die Coroanakrise nun wie durch ein Brennglas überdeutlich zutage treten. „Durch eine sinkende Tarifbindung ist die Sozialpartnerschaft in eine ernstzunehmende Krise geraten. Dies muss sich gerade jetzt in der Krise fundmental ändern. Tarifbindung, Mitbestimmung und starke Gewerkschaften sind nötiger denn je“, sagt Doll.
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